Sehr geehrter Präsident der Biennale von Venedig, sehr geehrter Paolo Baratta,
selten habe ich die Biennale so unzufrieden und müde verlassen wie dieses Jahr. Nein, es lag nicht an den unzähligen Kilometern, die ich wie jedes Mal zurückgelegt habe, um Giardini, Arsenale, Corderie zu sehen. Es lag an der Kunst, die ich auf diesen Kilometern zu sehen bekommen habe.
»Viva arte viva« — schon das Motto der Hauptausstellung der diesjährigen Biennale hätte mich eigentlich misstrauisch machen müssen. Nicht dass irgendjemand auf diese Motti noch besonders viel geben würde; sie haben sich schon bei den letzten Ausgaben oft als recht hohl entpuppt. Aber nach dem Besuch der Schau ist nun vollends klar: »Viva arte viva« kaschiert mit seiner klappernden Albernheit einen Kollaps. Es ist die Implosion der Idee eines irgendwie sinnvollen Überblicks zur zeitgenössischen Kunst. Ein Abgesang. Tod in Venedig, reenacted.
Dabei ist es ja keinesfalls so, dass die gezeigte Kunst, oder besser gesagt, einzelne Werke, nicht mehr zu uns sprechen würden oder uns nichts mehr zu sagen hätten. Nur will es der Hauptschau partout nicht mehr gelingen, das herzustellen, was doch einmal die Idee war: als Ergänzung zur notwendigerweise chaotischen Vielfalt der Länderpavillons ein irgendwie schlüssiges Bild der Kunst der Gegenwart zu zeichnen, bei dem das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. Vielleicht hat niemand diesen Kollaps besser geahnt als Harald Szeemann mit seiner letzten Ausgabe von 2001, für die er die Leitidee (oder war es eine Leitschnapsidee?) »Plateau de l‘humanité« (wahlweise zu übersetzen mit »Plateau der Menschheit« oder »der Menschlichkeit«) gewählt hatte. Die Ausstellungsarchitektur versinnbildlichte dieses menschliche Plateau mit einer schiefen Ebene im Hauptpavillon. Ausgerechnet. War das visionär gemeint oder gar ironisch? Was ist seither nicht alles ins Rutschen gekommen!
Der Kollaps, die Implosion der Biennale vor unser aller Augen hat aber nicht nur mit der dieses Mal besonders schlechten Hauptschau zu tun, sondern ist auch eine Folge ihrer Expansion und Explosion vor allem in den letzten zwei Jahrzehnten. Genauer gesagt: einer flächenmäßigen Überdehnung sowie einer Explosion der Besucherzahlen nebst der internationalen Aufmerksamkeit. All das können Sie als Präsident natürlich als Erfolg verbuchen. Als die Art von Erfolg jedenfalls, wie ihn zahlenfixierte Politiker und die meisten Geldgeber lieben, auf die die Biennale angewiesen ist. Nicht nur dieser Erfolg macht Sie zu einem geschätzten Kulturimpresario. Sie haben enorm viel geleistet, zum Beispiel die Biennale in den Jahren Berlusconis vor der völligen Verramschung bewahrt. Aber Ihr Erfolg hat auch einen Preis. Er besteht in Kompromissen aller Art, beispielsweise gegenüber den Galerien, ohne die die Biennale finanziell nicht zu stemmen wäre. Jedenfalls nicht so, wie sie jetzt ist.
Und nun verstellt dieser Erfolg wohl definitiv den Blick dafür, dass der Riesenkahn Kunstbiennale dringend eine Rundumerneuerung bräuchte. Er verhindert auch einen Befreiungsschlag. Denn wäre es zum Beispiel nicht endlich an der Zeit, sich zu verabschieden von einem gewichtigen Teil der Biennale-Erbmasse, der unseligen und immer unmöglicheren Verklammerung von Länder-, Völker-, Leistungs- und Trendschau? Wie wäre es mit dem offensiven Eingeständnis, dass die Epoche der notdürftig zusammengeklempnerten Kunst-Erzählungen à la »Viva Arte Viva« ihrem Ende zuneigt, weil selbst die mittelprächtigsten Kunstwerke derlei nicht verdient haben?
Wäre es nicht auch angesagt, wieder echte Fragen an die Kunst heranzutragen, nicht nur rhetorisch polierte Motti über sie zu stülpen? Fragen, die gerne auch wehtun dürfen, weil das, was heute rundherum in der Welt passiert, eine Kunst, die vor allem der Ablenkung und Beschwichtigung dient, ziemlich brutal entwertet. Fragen etwa nach aktuellen Varianten der Zensur und der Vereinnahmung von Kunst. Oder Fragen nach dem Zustand der Fundamente des heutigen Kunstbetriebs, die in der frühen Moderne gelegt wurden und heute ebenfalls als komplett sanierungsbedürftig erscheinen. Die Architekturbiennale von Rem...