Verlangen Sie von mir keine Definition von Animismus. Ungeachtet der Disziplin, der die verschiedenen Definitionen eines solch allgemeinen Begriffs angehören, tragen sie immer den Stempel ihrer Herkunft. Schon das bloße Wort kann kaum von abschätzigen kolonialistischen Assoziationen getrennt werden, ebenso wenig wie von Assoziationen mit der Idee von »Entwicklungsstadien«, einer weit verbreiteten völkerkundlichen Vorstellung, die von Sigmund Freud, James Frazer und Edward B. Tylor geteilt wird. Das erwachsene, rationale (männlich-weiße) Subjekt, das die bittere Wahrheit akzeptiert hat, dass es in einer stummen und blinden Welt allein ist, kann nun die Vergangenheit als das definieren, was zu ihm hinführt.
Freilich sind heute einige Ethnologen bemüht, sich von einer solchen Evolutionsgeschichte zu befreien – einer nicht-darwinistischen im Übrigen, da sie das Darwin’sche Abenteuer des Lebens auf der Erde, ein offenes Abenteuer ohne transzendente Perspektive in ein Epos verwandelt, das in der Lehre gipfelt: »Du sollst nicht in Regression verfallen«. Solange sie aber – wie etwa Philippe Descola – als Teil der Ambition ihres wissenschaftlichen Feldes aus fernen Welten Materialien mitbringen, aus denen sich eine universelle Anthropologie ableiten lässt, bleiben sie ein Teil unseres Epos vom Fortschritt. Wir können uns zwar von der ersten »rationalen« Definition der Natur bei den griechischen Philosophen oder von der monotheistischen Definition des Menschen – geschaffen nach dem Vorbild Gottes und Herr über die ganze Schöpfung – distanzieren, doch im Donnergetöse der widersprüchlichen Argumente der Wissenschaftler sind wir einfach nur Zuschauer, die in sicherem Abstand eine vertraute Situation erkennen: Wissenschaftler fühlen sich berechtigt, die Ansprüche der Rationalität zu entziffern und über die Überzeugungen aller anderen zu herrschen. Neurowissenschaftler können freiweg die Wahrheit dessen leugnen, worauf wir so stolz sind: Freiheit oder Rationalität. Anthropologen können freiweg behaupten, dass unser »Naturalismus« eines der vier menschlichen Schemata ist, die das organisieren, womit wir alle zu tun haben: die menschliche und die nichtmenschliche Natur.1 Wir können uns natürlich fragen, ob die neuronale Erklärung ein Fall von »Naturalismus« ist oder ob unser Ordnungssystem als Ergebnis neuronaler Attraktoren erklärt werden sollte. Aber was wir wissen, ist, dass »wir«, die wir keine ausgewiesenen Wissenschaftler sind, in diese Auseinandersetzungen ebenso wenig eingreifen können wie einst ein Sterblicher in die Streitereien der olympischen Götter. Selbst Philosophen, wiewohl Nachfahren der griechischen Vernunft, oder Theologen, wiewohl Erben des monotheistischen Glaubens, haben kein Mitspracherecht. Ganz zu schweigen von der alten Dame mit Katze, die behauptet, dass ihre Katze sie versteht. Wissenschaftler mögen zwar uneinig sein, wie wir uns irren, aber sie sind sich einig, dass wir uns irren. Das Epos dreht sich nicht mehr um den »Aufstieg des Menschen«, sondern um den Aufstieg des Wissenschaftlers. Wie können wir vermeiden, dass die Frage des Animismus, wenn sie denn überhaupt ernst genommen wird, in Begriffe gefasst wird, die zu diesem Aufstieg beitragen und die das Recht der Wissenschaftler bestätigen, Animismus als Wissensgegenstand zu definieren?
Wenn ich es ablehne, Animismus zu definieren, lehne ich also das ab, was mich für diese Definition autorisieren würde. Ich möchte weder von der traditionellen Behauptung, dass Animismus etwas ist, von dem die wissenschaftliche Rationalität uns entfremdet hat, autorisiert werden, noch von Descolas Behauptung, dass die Wissenschaft als Produkt dessen, was wir Rationalität nennen, tatsächlich beweist, dass wir »Naturalisten« sind, so wie andere »Animisten«. Bei dieser doppelten Ablehnung geht es nicht nur darum, die streitenden Götter allein zu lassen. Sie beruht in erster Linie auf meinem Interesse für das, was ich wissenschaftliche Errungenschaften nennen würde, und auf meinem damit zusammenhängenden Unbehagen, was die Art und Weise betrifft, in der solche Errungenschaften für die große traurige Geschichte von der »Wissenschaft, die die Welt entzaubert«, mobilisiert wurden. Zum Zweiten kann diese Ablehnung nicht von der Notwendigkeit getrennt werden, sich nicht nur dem Urteilen über »andere« zu widersetzen, sondern auch dem, was die Beziehung verwüstet hat, die wir zu uns selbst haben – ob wir nun Philosophen, Theologen oder alte Damen mit Katze sind.
Beim Abenteuer der Wissenschaften (im Plural) geht es nicht darum, ein allgemeines rationales Recht in Kraft zu setzen oder zu beweisen, dass die Natur einheitlich Gesetzen unterworfen ist. Eine solche Charakterisierung ist eher dann stimmig, wenn die Wissenschaft unter Verlust des Bewusstseins für den hinterfragenden Charakter der »wissenschaftlichen Errungenschaft« definiert wird – der zutage tritt, wenn es Wissenschaftlern gelingt, Situationen zu schaffen, die es dem, was sie befragen, erlauben, ihre Fragestellungen zu hinterfragen und zwischen relevanten und einseitig aufgedrängten Fragestellungen zu unterscheiden. Eine solche Situation herzustellen ist in der Tat eine ganz besondere Kunst und dazu eine sehr selektive, weil es bedeutet, dass das, was untersucht wird, erfolgreich als »Partner« in einer ungewöhnlich verworrenen Beziehung verstanden werden muss, als Partner, dessen Rolle in der Beziehung darin besteht, sowohl Fragen zu beantworten als auch und in erster Linie sie so zu beantworten, dass dabei die Fragestellung selbst überprüft wird.2 Und die Antworten, die sich aus einer solchen Errungenschaft ergeben, entfremden uns von nichts, weil sie immer mit der Schaffung neuer Fragestellungen einhergehen und nicht mit neuen autoritären Antworten auf Fragen, die angeblich jede/n angehen oder angehen sollten.
Wenn das gemeinsame Merkmal dessen, was wir Wissenschaft nennen, der hinterfragende, spezifische Charakter der wissenschaftlichen Errungenschaften wäre (die Übereinkunft, Situationen zu schaffen, die dem, womit die Wissenschaftler sich beschäftigen, die Macht geben, einen entscheidenden Unterschied zu machen, was den Wert ihrer Fragen angeht), wäre Relevanz der Name des Spiels und nicht Autorität oder Objektivität. Dementsprechend hätte die Pluralität der Wissenschaften die große Aufmerksamkeit widergespiegelt, die der anspruchsvollen Herausforderung, Relevanz in jedem einzelnen Bereich zu erlangen, gewidmet worden wäre. Eine solche Aufmerksamkeit gibt es zum Beispiel durchaus dann, wenn heutige Verhaltensforscher lernen, den entscheidenden Unterschied zu erkennen zwischen einem gelangweilten oder verstörten Tier, dem im Namen der Wissenschaft stupide, lähmende Aufgaben gestellt werden, und einem »animierten« Tier »in seinem Element«, das sich für die vorgeschlagene Situation interessiert. Und wenn ein Anthropologe wie Eduardo Viveiros de Castro schreibt, dass die Anthropologie einen Prozess der »permanenten Dekolonisierung des Denkens« erfordert, ist das ein Testprozess, da die »anderen« dann nicht nur jene sind, die anders »denken«, sondern auch jene, die in der Lage sind, die Bedeutung, die wir dem Denken beimessen, in Frage zu stellen.
Wir können uns nur ausmalen, wie eine wissenschaftliche Institution aussehen würde, die die Herausforderung akzeptierte, sich nur dann mit all dem zu beschäftigen, was ihre Aufgabe ist, wenn die Situation sicherstellt, dass das, womit sie sich beschäftigt, in die Lage versetzt wird, hinsichtlich der Art und Weise, in der man sich damit beschäftigt, »Position zu beziehen«. Wir können uns jedoch nicht vorstellen, dass die Wissenschaft dann den Animismus verifiziert hätte. Stattdessen können wir annehmen, dass der Ausdruck gar nicht existieren würde. Nur ein »Glaube« kann einen solch allgemeinen Namen bekommen. Wären wissenschaftliche Verfahren im Hinblick auf ihre jeweilige Spezifität gewürdigt worden, hätte wohl keiner daran gedacht, der »Wissenschaft« die Rolle zuzuweisen, sich mit anderen anhand der »Glaubensformen« zu beschäftigen, die sie in Bezug auf eine »Realität«, zu der die Wissenschaft einen privilegierten Zugang beansprucht, hegen. Statt wie die hierarchische Figur eines Baumes mit der Wissenschaft als Stamm, hätte das, was wir Fortschritt nennen, vielleicht wie ein Rhizom bei Deleuze und Guattari ausgesehen,3 das heterogene Praktiken, Fragestellungen und Wege, den Bewohnern dieser Erde Gewicht zu geben, verbindet, wobei keine davon privilegiert ist und jede sich mit jeder anderen verbinden kann. Eine Figur der Anarchie, könnte man einwenden. Ja, aber einer ökologischen Anarchie, denn während Verbindungen zwischen allen Teilen potenziell hergestellt werden können, müssen sie auch praktisch hergestellt werden. Verbindungen sind keine beliebigen Vorgänge. Es sind Ereignisse – wie die Symbiose – mit Konsequenzen, die beide Teile betreffen, so wie zum Beispiel eine Praxis lernt, inwiefern eine andere von Interesse sein mag, und dabei neue Möglichkeiten für diese andere Praxis eröffnet.
Gilles Deleuze schrieb, dass das Denken »durch das Milieu«4 geschehen sollte, womit er zweierlei meinte: ohne Bezug auf einen Grund oder ein ideales Ziel und nie etwas von dem Milieu abzutrennen, das es für seine Existenz benötigt. Um dem Bild des Baumes zu widerstehen, müssen wir zunächst bedenken, dass nicht alles in wissenschaftlichen Milieus existieren kann, weil nicht alles die Rolle übernehmen kann, die zur Schaffung einer »Repräsentation«, verstanden im spezifisch wissenschaftlichen Sinne, nötig ist – nämlich die Art und Weise, in der es repräsentiert, das heißt von Wissenschaftlern zugänglich gemacht wird, zu überprüfen. Ich habe einmal das Beispiel der Jungfrau Maria angeführt (nicht der theologischen Gestalt, sondern der Fürsprecherin, an die sich die Pilger wenden): Sich vorzustellen, dass sie ihre Existenz unabhängig vom Glauben und Vertrauen der Pilger hätte bekannt machen können, das heißt, die ihr gemäße Rolle in einer Situation spielen würde, die sich mit der Frage beschäftigt, wie sie repräsentiert werden kann, ist geschmacklos. Die Pilgerfahrt als eine Praxis zur Erlangung dessen zu verstehen, was die Verwandlungserfahrung der Pilger ist, verlangt, dass wir nicht zu dem Schluss kommen, dass sie, Maria, da sie ihre Existenz nicht »beweisen kann«, »nur eine Fiktion ist«, indem wir die allgemeinen Kategorien des Aberglaubens, des Glaubens oder der symbolischen Wirksamkeit heraufbeschwören, um aufzuklären, was ihnen widerfährt. Wir sollten lieber die Schlussfolgerung ziehen, dass Maria ein Milieu braucht, das mit wissenschaftlichen Anforderungen nicht übereinstimmt.
Pilger und die Jungfrau Maria sind jedoch keine idealen Beispiele für die rhizomatische Sichtweise, da sie heute von der ziemlich obszönen Alternative von »natürlicher« und »übernatürlicher« Verursachung vereinnahmt werden. Was ist verantwortlich für die Heilungen, zu denen es kommen mag: ein Wunder oder eine Art von »verstärktem Placebo-Effekt«? Diese Alternative ermöglicht das abstoßende Schauspiel in Lourdes oder an anderen Wunderstätten, wo die Amtskirche, bevor sie ein Wunder verkündet, das Urteil von Medizinern abwartet, die ermächtigt werden, zu entscheiden, ob eine Heilung durch hypothetische »natürliche Ursachen« erklärt werden kann. Dadurch wird eine verhängnisvolle Definition des »Natürlichen« gegeben: Es ist das, was die Wissenschaft in naher Zukunft erklären sollte. »Übernatürlich« ist demnach – genauso verhängnisvoll – alles, was eine solche »Sichtweise« in Frage stellt. Anders gesagt, das Milieu widersetzt sich allen rhizomatischen Verbindungen, kategorisiert den Fall in Bezug auf den Glauben – es gibt jene, die glauben, dass die »Natur« als der Bereich, in dem allein die Wissenschaft herrscht, Phänomene erklärt, die den Aberglauben fördern, und jene, die diesen Glauben zwar akzeptieren, aber einen weiteren hinzufügen, nämlich den Glauben an eine Macht, die über die Natur hinausgeht.
Der halb vergessene Fall des Magnetismus bietet hierzu einen interessanten Kontrast. Das leidenschaftliche Interesse, das er im 19. Jahrhundert auslöste, verwischte sämtliche Grenzen zwischen Natürlichem und Übernatürlichem. Die Natur wurde zum Mysterium, und das Übernatürliche war voller Boten, die den Medien, die sich in magnetischer Trance befanden, von irgendwoher Mitteilungen überbrachten – eine verwirrende Situation, die verständlicherweise sowohl bei wissenschaftlichen als auch bei kirchlichen Institutionen Gegnerschaft hervorrief. Es wurde sogar behauptet, dass die Psychoanalyse nicht die subversive »Plage« sei, auf die Freud so stolz war, sondern eher eine Wiederherstellung der Ordnung, da sie die Mittel lieferte, um mysteriöse Heilungen, die magnetische »Hellsichtigkeit« und andere dämonische Erscheinungen abschließend zu erklären, die nun als rein menschlich und als stichhaltiges Zeugnis für eine neue, allgemeine, von der Wissenschaft enträtselte Ursache eingeordnet wurden. Das Freud’sche Unbewusste war in der Tat »wissenschaftlich« in dem Sinne, als es die Verhöhnung jener, die an Wunder glaubten, und die Anerkennung der traurigen bitteren Wahrheit hinter den trügerischen Erscheinungen erlaubte. Es bestätigte das große traurige Epos, das Freud selbst populär gemacht hat: dass er, Kopernikus und Darwin nachfolgend, unseren narzisstischen Überzeugungen eine letzte tödliche Wunde versetzt habe.
Für einen anderen Ansatz steht der surrealistische Dichter André Breton, dem zufolge die seltsamen magnetischen Effekte den Wissenschaftlern und Medizinern aus der Hand genommen werden sollten. Es ginge nicht darum, zu verifizieren, was magnetisierte Hellseher sehen, oder darum, rätselhafte Heilungen zu verstehen, sondern um die Kultivierung der hellseherischen Trance (etwa im Automatismus) in dem Milieu, das sie wirklich braucht, um sich von den Fesseln der normalen, der Repräsentation verhafteten Wahrnehmung zu befreien. Das Milieu der Kunst sollte die schwierige Erforschung der Mittel, die erforderlich sind, um »unser gesamtes psychisches Vermögen zurückzugewinnen«,5 erlernen und kultivieren.
Bretons Vorschlag ist interessant, da das Milieu der Kunst in der Tat unterstützend auf die verwirrenden Effekte, die mit dem Magnetismus verbunden sind, hätte einwirken können, und die im Namen der Wissenschaft durch polemische Verifikationen – beherrscht vom Verdacht der Quacksalberei, Selbsttäuschung und des vorsätzlichen Betrugs – verstümmelt wurden. Ein solches Milieu wäre vielleicht in der Lage gewesen, ein eigenes praktisches Wissen über Trancezustände hervorzubringen – ein Wissen, das sich auf Wirkungen bezieht und sich nicht für die Gegenüberstellung von »natürlichen« (entmystifizierenden) und mysteriösen Ursachen interessiert.
Bretons Ansatz war jedoch weniger ein praktischer als ein auf Aneignung bedachter Vorschlag, der von einem typisch modernistischen Triumphgehabe gekennzeichnet war. Für ihn stand die Kunst an erster Stelle; sie war kein Handwerk unter anderen Handwerken, sondern die finale Heraufkunft des »Surrealen«, letztendlich gereinigt und geläutert von abergläubischen Überzeugungen … wie zum Beispiel dem Animismus. Er hätte nicht die Schaffung von rhizomatischen Verbindungen mit anderen Praktiken angestrebt, die auch eine Beziehung zur Welt erforschen, die nichts mit Repräsentation, sondern eher mit einem metamorphotischen Engagement zu tun hat. Er hätte nicht mit der Sichtweise gebrochen, die immer noch so viele »interdisziplinäre« Auseinandersetzungen, bei denen die »Subjektivität« des künstlerischen Standpunkts der »Objektivität« der Wissenschaft gegenübergestellt wird, beherrscht. Als ob in einer verwüsteten Landschaft ein Unterschied zwischen zwei Bannern gemacht werden könnte, die beide mobilisieren, doch beide leer sind, da sie übereinstimmend für unterwerfende Befehle stehen: Es gibt für »uns« kein Zurück. Wir müssen zertrampeln, was nun als Wiege erscheint, die zu verlassen wir nicht nur fähig sind, sondern zwingend verpflichtet.
Wer ist dieses »Wir«? Das ist die aktive, transformierende und nicht allein reflexive Frage, die ich mit einer anderen Vorgangsweise verbinden möchte, mit der des »Reclaiming«, der Rückgewinnung oder Wiederherstellung. Dabei geht es wiederum um die Frage des Denkens »durch das Milieu«, aber dieses Mal handelt es sich um ein Milieu, das gefährlich und ungesund ist, eines, das uns dazu bringt, zu fühlen, dass wir die große Verantwortung haben zu bestimmen, was ein Recht hat, »wirklich« zu existieren und was nicht, und somit Rationalität mit der Macht der wertenden Kritik gleichzusetzen. Wissenschaftler sind natürlich ebenso infiziert wie all jene, die ihre Autorität in Bezug auf das, was objektiv existiert, akzeptieren. Doch jene, die behaupten würden, Animisten zu sein, wenn sie sagen, dass Steine »wirklich« Seelen und Intentionen wie wir haben, könnten auch schon infiziert sein. Wichtig ist hier das Wort »wirklich«, eine Betonung, die die polemische Macht kennzeichnet, die mit der Wahrheit einhergeht. Indem ich für einen Moment auf Descolas Klassifikation zurückkomme, würde ich meinen, dass jene, die er Animisten nennt, kein Wort für »wirklich« haben, für das Beharren darauf, dass sie Recht haben und dass andere zum Opfer von Illusionen geworden sind. Das Wiederherstellen beginnt damit, die infizierende Macht dieses Milieus zu erkennen – eine Macht, die keineswegs besiegt ist, wenn die traurige Relativität jeder Wahrheit behauptet wird. Ganz im Gegenteil, der traurige – weil monotone – Refrain des Relativisten lautet dann nämlich, dass unsere Wahrheiten nicht »wirklich« die Autorität haben, die sie für sich in Anspruch nehmen.
Rückgewinnung bedeutet, einzufordern, wovon wir getrennt wurden, wenn auch nicht in dem Sinne, dass wir es einfach zurückbekommen würden. Es bedeutet, von eben jener Trennung zu genesen, das zu regenerieren, was sie vergiftet hat. Die Notwendigkeit zu kämpfen und die Notwendigkeit, uns von dem zu heilen, was uns jenen, die wir bekämpfen müssen, ähnlich zu machen droht, sind also unauflöslich miteinander verbunden. Ein vergifteter Boden muss regeneriert oder wiederhergestellt werden und so auch viele von unseren Wörtern, nämlich jene, die – wie zum Beispiel »Animismus« oder »Magie« – die Macht haben, uns als Geiseln zu nehmen: Glaubst du »wirklich« an …?
Ich bin zu diesem Wort »zurückgewinnen« durch die neo-paganen zeitgenössischen Hexen und andere US-Aktivisten und Aktivistinnen gekommen. Darüber hinaus hat mir der Aufschrei der neo-paganen Starhawk einen Schock versetzt: »Der Rauch der verbrannten Hexen hängt noch in unseren Nasen.«6 Die Hexenjäger sind natürlich nicht mehr unter uns und wir nehmen den Vorwurf der Teufelsanbeterei, der den Hexen gemacht wurde, nicht mehr ernst. Unser Milieu wird eher durch den modernen Stolz definiert, dass wir die Hexenjagd heute als eine Frage der gesellschaftlichen, sprachlichen, kulturellen oder politischen Konstruktion oder des Glaubens interpretieren können. Was dieser Stolz beiseite lässt, ist indessen, dass eine scharfe kritische Analyse in unserer Situation als Erben des Prozesses der kulturellen und gesellschaftlichen Ausrottung – dem Vorläufer dessen, was andernorts im Namen der Zivilisation und der Vernunft begangen wurde – zu unserer eigenen Betäubung beitragen kann. Alles, was hilft, die Erinnerung an solche Prozesse als Teil einer unwiderruflich zerstörten Vergangenheit zu klassifizieren, ist ein Teil ihres Erfolgs. In diesem Sinne macht uns unser Stolz auf unser kritisches Vermögen, »es besser zu wissen«, zu Erben der Hexenjäger.
Es geht natürlich nicht darum, sich schuldig zu fühlen. Man muss vielmehr ermöglichen, was William James in Der Wille zum Glauben7 eine echte, effektive Option nannte, die die »Wir«-Frage komplizierter macht, die verlangt, dass wir uns positionieren. Und hier liegt die eigentliche Wirksamkeit von Starhawks Aufschrei. Die Vergangenheit zurückzugewinnen, bedeutet nicht, sie so wieder auferstehen zu lassen, wie sie war, und davon zu träumen, eine »wahre«, »authentische« Tradition wieder zum Leben zu erwecken. Es geht eher darum, sie zu reaktivieren und zuerst einmal den Rauch in unserer Nase zu spüren, den Rauch, den ich zum Beispiel spüre, wenn ich übereilt betone, dass ich nicht »glaube«, man könne die Vergangenheit wieder auferstehen lassen. Den Rauch spüren zu lernen bedeutet, die Erinnerung und die Phantasie zu aktivieren, wenn wir die Art und Weise betrachten, in der wir die Codes unserer jeweiligen Milieus gelernt haben: spöttische Bemerkungen, wissendes Lächeln, Pauschalurteile, oft über jemand anderen, aber ausgestattet mit der Macht, in uns einzudringen und uns zu infizieren – uns zu jenen zu machen, die zu denen gehören werden, die verhöhnen, und nicht zu denen, die verhöhnt werden.
Wir können zwar die Art und Weise verstehen, in der die Vergangenheit uns geformt hat – doch zu verstehen bedeutet nicht wiederherzustellen, weil es keine Wiederbelebung ist. Dies war in der Tat die schmerzliche Frage von David Abram, eine Frage, die wir nicht vermeiden können, indem wir einfach auf den Kapitalismus oder die menschliche Gier verweisen: Wie kann eine Kultur, die so hoch entwickelt ist wie die unsere, so selbstvergessen und rücksichtslos in ihren Beziehungen zur mit Leben erfüllten Erde sein?8 Abram war in einer Buchhandlung, in der alle geheiligten Traditionen und Ressourcen der moralischen Weisheit aus Vergangenheit und Gegenwart versammelt waren, als ihm schlagartig die Antwort einfiel:
»Kein Wunder! Kein Wunder, dass unsere hochkomplexen Zivilisationen, die randvoll mit dem angehäuften Wissen so vieler Traditionen sind, beständig jeden Teil der atmenden Erde planieren und zerstückeln […]. Da wir all diese Weisheiten niedergeschrieben haben, trennen wir diese vielen Lehren tatsächlich vom lebendigen Land, das diese Lehren einst enthalten und verkörpert hat. Als all dies niedergeschrieben worden war, schien die Weisheit ausschließlich menschlichen Ursprungs zu sein. Die Erleuchtung, die früher vom Tanz des Mondes innerhalb und außerhalb der Wolken oder vom Flirren des Sonnenlichts auf der vom Wind gekräuselten Oberfläche eines Bergsees herrührte, war nun in einer unabänderlichen Form festgelegt.«9
David Abram schreibt trotzdem, und zwar leidenschaftlich. Schreiben (nicht niederschreiben) schafft die gleiche Art von entscheidender Unbestimmtheit wie der tanzende Mond – keine »entweder/oder«-Alternative, die die Erfahrung aufspaltet zwischen dem Mond, der »wirklich« eine Erleuchtung bringt, wie es ein intentionales Subjekt tun würde, und dem Mond, der nur ein Auslöser für das ist, was »wirklich« menschlichen Ursprungs ist. Schreiben ist eine Erfahrung der metamorphischen Verwandlung. Es gibt einem das Gefühl, dass Ideen nicht vom Autor stammen, dass sie eine Art von zerebraler, das heißt körperlicher Kontorsion brauchen (uns zu Larven machen, wie Deleuze schreibt), wodurch jede vorgeformte Intention ausgeschaltet wird. Es könnte sogar gesagt werden, dass das Schreiben das ist, was den Verwandlungskräften den Existenzmodus gab, den wir »Ideen« nennen. Für Alfred North Whitehead war Platons Bemerkung, dass Ideen etwas seien, was die menschliche Seele oder, wie wir sagen könnten, das »beseelte, animierte« Menschenwesen erotisch anlockt, die ursprüngliche Definition sowohl der Philosophie als auch der (griechischen) menschlichen Seele als »Genuss ihrer kreativen Funktion, der aus der Unterhaltung von Ideen hervorgeht«.10 Wie Deleuze sagt, bedeutet dieses Genießen, einer Hexenlinie zu folgen.11 Für Étienne Souriau ist keine Schöpfung, die etwas Neues hervorbringt, allein menschlichen Ursprungs, da der menschliche Akteur dem unnachgiebigen Imperativ »Rate!« ausgesetzt ist, der vom zu schaffenden Werk kommt.12
Wenn der Text jedoch in einer »unabänderlichen Form« niedergeschrieben wird, kann er sich durchaus als ein von Menschen geschaffener Text aufdrängen – und sogar den Eindruck erwecken, dass er ein Vehikel sein kann, um Zugang zu den Intentionen des/der Autor/in zu bekommen, also zu dem, was er »vermitteln wollte« und was wir »verstehen« sollen. So kann die Platon’sche Seele zu einer Definition werden, die von der Erfahrung geschieden ist, also zu etwas, das wir haben und die »Natur« nicht. Nach dem Symposion, in dem Platon die erotische Macht der Ideen diskutiert, hätte er, laut Whitehead, einen weiteren Dialog mit dem Titel Die Furien schreiben sollen, der sich mit dem Schrecken beschäftigt, der »in unvollkommener Verwirklichung« lauert. Die Gefahr unvollkommener Verwirklichung ist gegeben, wo immer transformative, metamorphotische Kräfte spürbar werden, aber sie wohnt auf jeden Fall Ideen inne, deren Verwirklichung beinhaltet, dass sie »niedergeschrieben« werden, und die uns in Versuchung bringen, den Text als etwas zu definieren, das in sich selbst abgeschlossen und allgemein verständlich ist und die Erfahrung des Lesens von der des Schreibens loslöst. Umso mehr in einer Welt, die heute von Texten und Zeichen gesättigt ist, welche Träger für Informationen und Mitteilungen sind, die sich an »jede/n« richten – und uns von der »mehr als menschlichen« Welt13 trennen, zu der die Ideen dennoch gehören.
Den Animismus wiederherzustellen bedeutet nicht, die »Idee« des Animismus wiederherzustellen, selbst wenn es für Leute wie mich mit der Feststellung beginnt, dass meine Erfahrung des Schreibens eine animistische Erfahrung ist, Zeugnis einer »mehr als menschlichen« Welt. Es geht eher darum, die Fähigkeit wiederherzustellen, die Erfahrung, jede Erfahrung, um die wir uns bemühen, nicht als »unsere« zu würdigen, sondern vielmehr als uns »animierende«, die für uns von dem zeugt, was wir nicht sind. Eine solche Wiederherstellung ist, wie gesagt, keine Idee, aber sie kann unterstützt werden (geschützt davor, als fetischistische Illusion »entmystifiziert«14 zu werden) durch die Idee des agencements15 von Deleuze und Guattari.
Ein agencement ist für Deleuze und Guattari ein »Gefüge« aus heterogenen Komponenten, und ein solches Gefüge ist das erste und letzte Wort der Existenz. Ich existiere nicht und gehe in Gefüge ein; meine Existenz ist meine Partizipation an Gefügen – ich bin nicht dieselbe, die schreibt und sich über die Wirksamkeit des Textes wundert, wenn er einmal niedergeschrieben ist. Ich bin nicht mit agency, Handlungsfähigkeit, ausgestattet, ich bin nicht die Besitzerin von Intentionen und Initiative. Animation, Handlungsfähigkeit oder das, was Deleuze und Guattari »Begehren« nannten, gehört zum Gefüge als solchem, einschließlich jener ganz besonderen Gefüge, die als reflexive bezeichnet werden, welche eine Erfahrung der Loslösung erzeugen, also den Genuss der kritischen Überprüfung vorangegangener Erfahrung, um zu bestimmen, was »wirklich« verantwortlich für etwas ist. Es war sicherlich ein ganz entscheidendes Gefüge für unser Überleben – lange bevor es zum Synonym des intellektuellen Lebens wurde, aber immer noch ein Gefüge unter anderen, nicht das sich zurückziehende »Jenseits« –, das die freie Untersuchung dessen erlauben würde, was mich verlockt hat, zu denken, zu fühlen oder meine Phantasie spielen zu lassen.
Den Animismus mit der Wirksamkeit von agencements zu verbinden, ist allerdings kein ungefährlicher Schachzug. Es bietet den Lesern einen leichten Ausweg, denn ich kann nicht verhindern, dass sie daraus schließen, dass ich eine Interpretation à la Deleuze und Guattari liefere, die vielleicht nicht uninteressant, aber keineswegs notwendig ist. Ich kann die Leser auch nicht daran hindern, sich zu fragen, ob für eine Untersuchung des modernen Epos nicht Derridas Dekonstruktion oder Foucaults Macht/Wissen besser geeignet oder relevanter wären. Wir, als Leser, sind es gewohnt, ganz frei Fragen zu stellen, ohne die existentiellen Folgen unserer Fragen zu tragen, zum Beispiel agencements als ein interessantes Konzept zu verstehen, das wir als eines unter anderen verwenden könnten, das heißt, ohne das Gefühl zu haben, dass unsere intentionale Haltung von seinem Anspruch bedroht wird, und auch ohne den argwöhnischen Blick der Inquisitoren zu fürchten, ohne den Rauch in unseren Nasen zu spüren … wir sichern uns ab durch die Referenzen, die wir zitieren.
Daher mag es besser sein, weitere kompromittierende Wörter wiederzubeleben, die tot und begraben sind und nur noch metaphorisch verwendet werden. »Magie« ist ein solches Wort, da wir ganz unbefangen von der Magie eines Ereignisses, einer Landschaft oder eines Musikstücks sprechen. Geschützt durch die Metapher, können wir dann die Erfahrung einer Handlungsfähigkeit zum Ausdruck bringen, die uns selbst dann nicht gehört, wenn sie uns miteinschließt – allerdings in Empfindung gehüllt. Es kann sein, dass wir auf diesen Schutz verzichten müssen, um uns selbst von der traurigen, monotonen, leisen kritischen Stimme zu heilen, die flüstert, dass wir uns nicht irreführen lassen dürfen, von einer Stimme, die sich jener der Inquisitoren anschließt und zu einem lauten öffentlichen Schrei werden kann, der die furchtbaren Möglichkeiten heraufbeschwört, die sich ergeben würden, wenn die Kritik, die einzige Verteidigung, die wir gegen den Fanatismus und die Herrschaft der Illusionen haben, aufgegeben würde.
Dieser Schrei hat die Macht der epischen Geschichte von der Menschheit, die ihre Wiege verlässt und sie unter ihren Füßen zertrampelt. Wir würden viele kühne Vorschläge billigen, solange sie – wie jener Bretons – eine Version des Epos widerspiegeln, solange sie garantieren, dass nur ein ausgewählter Personenkreis (Künstler, Philosophen …) berechtigt ist zu erforschen, was andere in Staunen versetzt. Doch die Magie unterläuft all diese Versionen des Epos. Und genau das ist einer der Gründe, warum die neo-paganen Hexen ihr eigenes Handwerk »Magie« nennen – diese Benennung ist in sich selbst ein Akt der Magie, weil wir durch die Erfahrung des Unbehagens, das sie auslöst, den Rauch in unseren Nasen spüren können. Schlimmer noch: Sie haben gelernt, Kreise zu ziehen und die Göttin anzurufen, SIE, die, wie die Hexen sagen, »wiederkehrt«, SIE, der gedankt wird dafür, dass sie alle und jede/-n in die Lage versetzt, »das Werk der Göttin zu tun«, wie sie sagen. Sie stellen uns auf die Probe: Wir werden keine Regression oder Konversion zu übernatürlichen Glaubensformen akzeptieren!
Es geht jedoch nicht darum, sich zu fragen, ob »wir« die Göttin akzeptieren müssen, die heutige Hexen bei ihren Ritualen anrufen. Wenn jemand zu ihnen sagte, »aber eure Göttin ist doch nur eine Fiktion«, würden sie zweifellos lächeln und uns fragen, ob wir zu denen gehören, die glauben, dass Fiktion keine Macht hat. Die Hexen verlangen von uns, Kriterien aufzugeben, die über agencements hinausgehen und immer wieder das Epos von der kritischen Vernunft bestätigen. Was sie als Teil ihres Handwerks (da es ein Teil jedes Handwerks ist) kultivieren, ist eine Kunst der immanenten Aufmerksamkeit, eine empirische Kunst, die sich mit dem beschäftigt, was gut oder giftig ist, eine Kunst, die unser Hang zu einer Wahrheit, die über die Illusion siegt, allzu oft als bloßen Aberglauben abgetan hat. Sie sind pragmatisch, radikal pragmatisch, experimentieren mit den Wirkungen und Folgen einer »Verwirklichung«, die nie ungefährlich ist und die, wie sie wissen, Sorge, Schutz und Erfahrung beinhaltet.
Der rituelle Gesang der Hexen »SIE verändert alles, was SIE berührt und alles, was SIE berührt, verändert sich«16 könnte sicherlich in Begriffen von agencements kommentiert werden, da er der zergliedernden Zuordnung der Handlungsfähigkeit widersteht. Gehört die Veränderung zur Göttin als »Agens« oder zu dem, was sich verändert, wenn es berührt wird? Die Wirksamkeit des Refrains besteht nicht darin, die Macht, etwas zu verändern, der Göttin zuzuordnen, sondern vielmehr darin, sie nicht uns selbst zuzuordnen. Es geht darum, die Veränderung als eine Schöpfung zu würdigen, anstatt sie zu etwas »Natürlichem« zu machen, und dem Urteil zu widerstehen, um zu erkennen, was eine Veränderung verlangt und möglich macht. Wir können das zwar kommentieren, aber das Gefüge hat nun sein Vermögen verloren, vor dem argwöhnischen Blick zu schützen. Der Refrain muss gesungen werden; er ist integraler Bestandteil der Praxis der Anrufung.
Kann die These, dass die Magie sowohl ein Handwerk der Gefüge als auch ihre besondere transformatorische Wirksamkeit bezeichnet, uns helfen, sie sowohl gegenüber der Sicherheit des Metaphorischen als auch gegenüber dem Stigma des Übernatürlichen zu regenerieren? Kann sie uns helfen, stattdessen ein Gefühl dafür zu bekommen, dass in der Natur nichts »natürlich« ist? Kann sie uns überdies dazu bringen, neue Transversalitäten in Betracht zu ziehen – aber nicht reduktive, wie diesen traurigen Ausdruck »natürlich«, der im Grunde bedeutet »Betreten verboten: zugänglich nur für wissenschaftliche Erklärung« oder wie »das Symbolische«, das alles Andere abdeckt? Wie immer, wenn es um die Rückgewinnung geht, müssen wir mit einem kompromittierenden Schritt beginnen. Wir, die wir keine Hexen sind, können zum Beispiel mit der (nicht-metaphorischen) Verwendung des Ausdrucks Magie experimentieren, um das Zauberhandwerk von Illusionisten zu bezeichnen, die uns dazu bringen, etwas wahrzunehmen und zu akzeptieren, von dem wir wissen, dass es unmöglich ist.
Heute interessieren sich kognitive Neurowissenschaftler für dieses Handwerk. Wie sie entdecken, haben Zauberkünstler bemerkenswerte Versionen dessen benutzt, was sie selbst in ihren Laboratorien aufbauen, um die aktive Konstruktion von dem zu zeigen, was wir »Wahrnehmung« nennen. Alles, was diese erste, tatsächlich wirksame rhizomatische Verbindung interessant macht,17 genügt nicht, die Wissenschaftler von der üblichen traurigen Geschichte abzubringen, die da lautet: »Wir glauben, dass wir eine Welt wahrnehmen, während das, was wir wahrnehmen, nur eine Konstruktion ist.« Anstatt diese Konstruktion als ein Zeugnis zu würdigen für eine Welt und die Art von Aufmerksamkeit, von der unser Überleben in dieser Welt abhängig ist, erfüllen sie in unserem infizierten und infizierenden Milieu ihre festgelegte Aufgabe, indem sie die Tatsache, dass wir verlockt und getäuscht werden können, nutzen, um unsere Illusion, dass wir rationale Subjekte sind, die die Welt betrachten, »wie sie ist«, zu entmystifizieren.
Magie ist, wie die Hexen sagen, eine »Handwerkskunst«. Sie wären nicht schockiert über eine transversale Verbindung zum »Zauberhandwerk«, das Magier einsetzen, wenn diese Verbindung eine wiederherstellende ist, das heißt, wenn die Zauberkunst von Magiern auf der Bühne als etwas angesehen wird, das überlebt hat, als die Magie zu einer Frage der Illusion und manipulierenden Täuschung in der Hand von Quacksalbern wurde oder den gierigen Händen jener überlassen wurde, welche die vielen Arten kennen, auf die wir dazu verlockt werden können, etwas zu begehren, auf etwas zu vertrauen oder etwas zu kaufen. Und das ist genau das, was David Abram, selbst ein Zauberer von ausgesprochener Fingerfertigkeit, beschreibt. Er spricht nicht von einer illusionären Konstruktion, sondern eher »von der Eigenschaft der Sinne selbst, über das hinauszugehen, was unmittelbar gegeben ist, um einen versuchsweisen Kontakt zu den anderen, von uns nicht direkt wahrgenommenen Seiten der Dinge herzustellen, zu den verborgenen oder unsichtbaren Aspekten des Sinnlichen«.18 Was »Illusionisten« kunstvoll nützen, ist eben jene Kreativität der Sinne, wenn sie »auf Suggestionen reagieren, die ihnen vom Sinnlichen selbst angeboten werden«.19 Und deren Einsatz sagt uns etwas über die Kunst, nicht über die Personen, da die Suggestionen hier nicht nur durch die Worte und Gebärden des Magiers übermittelt werden, sondern auch durch fast unmerkliche Körperbewegungen, die zum Ausdruck bringen, dass er selbst Teil jenes Zaubers ist, den er vorführt, und dass er selbst von ihm »verführt« wird. Unsere Sinne sind nicht für eine unbeteiligte Kognition gemacht, sondern für Teilhabe, ein nicht-theoretisches (Theorie: unbeteiligte, losgelöste Kontemplation) Bewusstsein, welches das metamorphotische Vermögen der Dinge teilt, die uns anlocken oder in reglose Verfügbarkeit zurückfallen entsprechend der Art unserer Teilhabe – das aber nie verschwindet: Wir treten nie heraus aus dem »Fluss der Teilhabe«20 oder der agencements.
Wenn Magie wiederhergestellt wird als eine Kunst des Gefüges, werden diese Gefüge umgekehrt zum Gegenstand einer empirischen und pragmatischen Beschäftigung mit Wirkungen und Konsequenzen, und nicht einer allgemeinen Betrachtung oder textuellen Analyse. Verführerisch, suggestiv, trügerisch, anziehend, einnehmend, faszinierend – alle unsere Wörter drücken die Ambivalenz der verlockenden Täuschung aus, denn was immer uns verlockt oder animiert, kann uns auch verschlingen, und das umso mehr, so es für selbstverständlich gehalten wird. Wissenschaftliche experimentelle Fertigkeiten, die auf dramatische Weise die metamorphotische Wirksamkeit des Gefüges veranschaulichen, das den Dingen die Macht verleiht, den oder die Wissenschaftler zu »animieren«, dass er oder sie fühlt, denkt und seine Phantasie spielen lässt, sind auch ein dramatisches Beispiel für das, was Whitehead »unvollkommene Verwirklichung« nannte, wenn Wissenschaftler, gefangen von der epischen Geschichte, ihre Errungenschaften als bloße Manifestationen der objektiven Rationalität herabwürdigen. Doch die Frage, wie die metamorphotische Wirksamkeit von Gefügen zu würdigen ist (sie weder für selbstverständlich zu halten noch mit einer übernatürlichen Größe auszustatten), ist etwas, das alle »magischen« Handwerke angeht, besonders in unserem ungesunden, infizierten Milieu. Und da diese Frage zwar allgemein sein mag, aber keine allgemeine Antwort bekommen kann, kann die Wiederherstellung der Magie nur eine rhizomatische Operation sein.
Ein Rhizom weist jede Allgemeinheit zurück.21 Verbindungen manifestieren hier keine Wahrheit, die ihnen gemeinsam wäre, über ihre heterogene Mannigfaltigkeit hinaus, jenseits der Mannigfaltigkeit verschiedener pragmatischer Bedeutungen, die »Magie« in Bereichen annimmt, in denen »Animation« mit dem verbunden ist, was wir Politik, Heilkunde, Erziehung, Kunst, Philosophie, Wissenschaften oder Landwirtschaft nennen, oder mit irgendeinem Handwerk, welches es erfordert und darauf beruht, dass wir dem, womit wir uns beschäftigen, die Fähigkeit zugestehen, uns in einen Zustand relevanter Aufmerksamkeit zu locken. Die einzige Allgemeinheit, die es hier gibt, bezieht sich auf unser Milieu und dessen Drang zu kategorisieren und zu urteilen (Spiritualismus ist hier ein wahrscheinliches Urteil) oder alles zu leugnen, was auf die metamorphische Dimension dessen verweisen würde, was erreicht werden soll. Mathematik zu lernen ist »normal«. Doch als Ereignisse erzählen uns rhizomatische Verbindungen etwas über die Ungleichgültigkeit: Jedes »magische« Handwerk braucht Verbindungen zu anderen, um sich gegen eine Infektion durch das Milieu zu wehren, aber auch um zu heilen und zu lernen. Wenn es um die gefährliche Kunst des Animierens, um selbst animiert zu werden, geht, mag jedes praktische Lernen, jeder Weg die notwendige immanente (kritische) Aufmerksamkeit in Gang zu setzen, auch anderswo relevant sein, aber nie als Modell, sondern immer als eine pragmatische Neuerfindung. Eine solche Ungleichgültigkeit muss auch geehrt werden, um Widerstand gegen die spaltende Macht des gesellschaftlichen Urteils zu leisten, um den Rauch zu spüren, der verlangt, dass wir uns entscheiden, ob wir Erben der Hexen oder der Hexenjäger sind. Zu ehren verlangt Benennung. Animismus könnte der Name für diese rhizomatische Kunst sein.
Den Animismus zurückzugewinnen oder wiederherzustellen bedeutet somit nicht, dass wir jemals animistisch gewesen sind – keiner ist jemals animistisch gewesen, weil man niemals animistisch »im Allgemeinen« ist, sondern immer im Sinne eines Gefüges, das eine metamorphotische (magische) Transformation unseres Vermögens, zu affizieren und affiziert zu werden – das heißt auch, zu fühlen, zu denken und zu imaginieren –, produziert und fördert. Animismus kann indes ein Name dafür sein, diese Gefüge wiederherzustellen, weil er uns dazu verlockt, zu fühlen, dass wir nicht den Anspruch auf deren Wirksamkeit erheben können. Gegen die hartnäckige, vergiftete Leidenschaft zu zergliedern und zu entmystifizieren bringt er zum Vorschein, was anzuerkennen sie alle von uns einfordern, um uns nicht zu verschlingen – dass wir nicht allein auf der Welt sind.
1 Philippe Descola unterscheidet zwischen Naturalismus, Animismus, Analogismus und Totemismus; vgl. Jenseits von Natur und Kultur, übers. von Eva Moldenhauer, Berlin 2011.
2 Siehe Isabelle Stengers: Die Erfindung der modernen Wissenschaften, übers. von Eva Brückner-Tuckwiller und Brigitta Restorff, Frankfurt/M. 1997.
3 Siehe Gilles Deleuze und Félix Guattari: Tausend Plateaus, übers. von Gabriele Ricke und Ronald Voullié, Berlin 1992, S. 11–42.
4 Was im Französischen gleichermaßen bedeutet: »durch die Mitte« und »durch das Milieu«.
5 Vgl. André Breton: »Zweites surrealistisches Manifest«, in: Die Manifeste des Surrealismus, übers. von Ruth Henry, Reinbek 1986, S. 49–101, S. 65.
6 Starhawk: Wilde Kräfte. Sex und Magie für eine erfüllte Welt, übers. von Angela Roethe, Freiburg 1987, S. 239.
7 William James: Der Wille zum Glauben und andere popularphilosophische Essays, übers. von Theodor Lorenz, Stuttgart 1899.
8 Vgl. David Abram: Becoming Animal. An Earthly Cosmology, New York 2010, S. 180.
9 Ebd., S. 181.
10 Alfred North Whitehead: Abenteuer der Ideen, übers. von Eberhard Bubser, Frankfurt/M. 2000, S. 288. [Übersetzung geändert.]
11 Vgl. Gilles Deleuze und Félix Guattari: Was ist Philosophie?, übers. von Bernd Schwibs und Joseph Vogl, Frankfurt/M. 1996, S. 50.
12 Vgl. Étienne Souriau: Les différents modes d’existence, Paris 2009.
13 Siehe David Abram: The Spell of the Sensuous. Perception and Language in a More-Than-Human World, New York 1997.
14 Zu unserem wilden »Anti-Fetischismus« siehe Bruno Latours Arbeiten in den letzten fünfzehn Jahren. Sein erstes »coming out« als Anti-Fetischist findet sich in Petite réflexion sur le culte moderne des dieux faitiches, Paris 1996.
15 Zur Übersetzung von »Agencement« als »Gefüge« siehe die Anmerkung in Deleuze und Guattari: Tausend Plateaus, S. 12: »›Agencement‹ bedeutet im Alltagsfranzösisch soviel wie Einrichtung, Anordnung, Aufstellung oder Arrangement und wird hauptsächlich im handwerklichen Bereich verwendet.« [Anm. d. Ü.]
16 Starhawk, Wilde Kräfte, S. 246.
17 Siehe Stephen Macknick, Susana Martinez-Conde, Sandra Blakeste: Sleights of Mind, London 2011. In diesem Fall sind Wissenschaftler dazu gekommen, ein »nicht wissenschaftliches Handwerk« zu bewundern, da sie die Meisterhaftigkeit von Zauberern erkannten und sogar deren Tricks lernten. Die Tricks der Zauberer müssen in der Tat auf robuste Weise Erfolg haben bei Leuten, die »in ihrem Element« sind, die wissen, dass es sich um einen Trick handelt und sehr stolz wären, den Trick zu erraten. Selbst andere Zauberer, die den Trick kennen, »sehen« unweigerlich, wie die Münze in der Luft verschwindet.
18 Abram, The Spell of the Sensuous, S. 58.
19 Ebd.
20 Ebd., S. 59.
21 Im Gegensatz zum »Paradigma«, dem ziemlich gefährlichen Ausdruck, den Félix Guattari benutzte, als er ein neues »ästhetisches Paradigma« forderte, um das »objektivistische Paradigma« zu ersetzen – und das entsprechend die »Kunst« privilegierte, mit der Gefahr eine epische Perspektive wiederzubeleben.
ist Wissenschaftsphilosophin und lehrt an der Université libre de Bruxelles. Ihre Forschung befasst sich u.a. mit Physik, Chemie, Ethnopsychiatrie, Whitehead und Deleuze.
Irene Albers (Hg.), Anselm Franke (Hg.)
Animismus
Revisionen der Moderne
Broschur, 320 Seiten
PDF, 320 Seiten
Der »Animismus« ist eine Erfindung der Ethnologie des 19. Jahrhunderts, geprägt auf dem Höhepunkt des europäischen Kolonialismus. Animisten bevölkern die unbelebte Natur mit Seelen und Geistern. Das erklärt man als eine die materielle Realität verkennende »Projektion«, durch die den Dingen und der Natur Leben und Handlungsmacht zugeschrieben wird. Animismus wird so zum Gegenbild moderner Wissenschaft, zum Ausdruck eines »Naturzustands«, in dem Psyche und Natur als ungeschieden gelten. Wenn sich letzthin ein neues Interesse am Animismus herausgebildet hat, liegt das nicht daran, dass der Begriff als wissenschaftliche Kategorie rehabilitiert wurde. Vielmehr ist die kategorische Trennung von subjektiver und objektiver Welt selbst in Bewegung geraten.