Rolf Bossart: Unter einem bestimmten Blickwinkel kann man alle deine bisherigen Projekte als Entfaltung und Realisierung eines neuen Realismus bezeichnen. Lässt sich der Punkt, wo plötzlich das Alte mit dem Potential zur Transformation in etwas Neues auftritt, bestimmen?
Milo Rau: Ein paar Monate vor seinem Tod führte ich eine Folge von Gesprächen mit dem Philosophen und Medientheoretiker Friedrich Kittler, der sich in seinen kulturtechnischen Forschungen intensiv mit verschiedenen Aufschreibesystemen von Literatur bis Computerprogrammen beschäftigt hat. Eines davon, in dem es um die Macht der Bilder in der rumänischen Revolution ging, ist in dem Band Die letzten Tage der Ceausescus abgedruckt. Ein anderes konnte von Kittler nicht mehr autorisiert werden. Es ging darin um das Verhältnis zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen nach Hegel. Warum aber Hegel? Kittlers wichtigste Bücher sind aggressiv undialektisch, Kittler war der Ent-Hegelianisierer der deutschen Philosophie. Aber wie gemäß einem Marx-Zitat »alle Staatsformen zu ihrer Wahrheit die Demokratie haben«, pflegte Kittler zur Überprüfung seiner Technik-Philosophie ab und zu den Sänger des Weltgeistes zu befragen. Hegels Definition des Besonderen gegenüber dem Allgemeinen ist für eine Realismustheorie folgenreich: Das Besondere ist nicht – wie hundert Jahre nach Hegel die formalen Logiker glauben würden – im Allgemeinen enthalten. Das Besondere ist jener Ort, in dem sich das Allgemeine realisiert. Und als materialistisch aufgeklärter Idealist könnte man sogar sagen: Es gibt kein Allgemeines jenseits seiner Realisierung. »Das Interessante an Hegels Definition ist aber«, sagt Kittler an einer Stelle, »die objektive Qualität, die er dem Besonderen zuspricht. Anders ausgedrückt gibt es nach Hegel kein absolutes Besonderes.« Mit einer Art Schock erkannte ich erst später, dass dieser Satz, der mir zuerst im Gespräch überhaupt nicht aufgefallen war, für meine Arbeit eine Art Dogma darstellte: Es gibt kein absolutes Besonderes.
Rolf Bossart: Was sind deine konkreten Schlüsse daraus?
Milo Rau: Diese von Kittler transportierte Hegelsche Erkenntnis, dass es kein absolutes Besonderes gibt, heißt eigentlich, dass die ganze Theorie des subjektiven Erzählens, des subjektiven Erlebens, von dem die Performance ausgeht, keine reale Basis hat, weil es das solitäre Subjektive so nicht gibt. Der Mensch ist immer bereits aufgehoben oder eingeordnet in Kollektiven. Und das ist das, was zählt. In dem Moment, wo er ins Öffentliche oder auf eine Bühne tritt, spricht er nicht mehr für sich allein, auch da, wo er scheinbar nur von sich erzählt. Es gibt natürlich die subjektive Vereinzelung als Autismus oder als Solipsismus, aber das sind keine Formen, die im Theater irgendeine Bedeutung haben.
Rolf Bossart: Das ist wohl der Punkt, wo die Postmoderne von heute aus gesehen unrecht hatte.
Milo Rau: Natürlich hatten die Behauptung der Wahrheit der Einzelperspektive, der subjektiven Befindlichkeit oder die Feier des Authentischen ihre historische Notwendigkeit als Reaktion auf den Schock, den die totalitären Kollektive im 20. Jahrhundert ausgelöst hatten. Die Dekonstruktion ist der Balsam der Enttäuschten, die Konzentration auf die Kleinteiligkeit der Kater nach dem Rausch des Universalen. Solche Phasen gibt es immer wieder… und sie dauern wohl zwischen fünfzig und hundert Jahre – man müsste das einmal historisch genau ausarbeiten. Aber ihre Überwindung ist dadurch auch immer schon vorprogrammiert.
Rolf Bossart: Der entscheidende Moment, wodurch die Postmoderne an Anziehungskraft verliert, ist wahrscheinlich immer der, wo die aus ihren Kontexten gelösten Subjekte nicht mehr als befreite Individuen auftreten, sondern plötzlich nur noch einsam, bedeutungslos und funktionslos erscheinen, da nichts mehr von dem, was sie tun und sprechen, auf etwas Allgemeines beziehungsweise das allgemein Menschliche bezogen werden kann. In deinem frühen Essay Als die Postmoderne tschüss sagte drückst du es so aus: »Was gerade noch nach Party und Abenteuer geduftet hatte, roch auf einmal seltsam traurig nach langen, einsamen Videoabenden in irgendwelchen akademischen Kiffer-Verliesen. Der Zuschauer wollte wieder Menschen sehen. Oder immerhin Figuren, die man ernst nehmen konnte.«
Milo Rau: Dem ganzen Skeptizismus der Postmoderne, der darauf hinweist, dass der Mensch, weil er ein Körper mit bestimmten Anlagen und Merkmalen ist, in seiner universalistisch-objektiven Sichtweise eine natürliche Begrenzung hat, hat Kant ja schon vor fast 250 Jahren die kritische Spitze genommen, indem er einfach gesagt hat: das ist das humane Apriori. Wir sind Körper. Es macht keinen Sinn, darüber zu debattieren. Es gibt immer eine materielle Basis. Man kann sie weder sinnvollerweise leugnen noch absolut setzen, wie ein primitiver Materialismus es tut. In Kants Konzept des transzendentalen Subjekts – das als Erkennendes in Erscheinung tritt und Zugang zu überindividuellen Konzepten hat – war gleichzeitig das Problem des Materialismus und des Skeptizismus überwunden.
Rolf Bossart: Der Vorwurf diesem Kantischen Subjekt gegenüber war aber immer, dass es sich jenseits der realen Konflikte ins Refugium der unantastbaren Wahrheit flüchten kann. Dass es sich also einfach mit einem Sprung in die Transzendenz frei macht von allen Widersprüchen.
Milo Rau: Obwohl es klar ist, dass Kant von Hegel und Hegel wiederum von Marx überwunden werden musste, muss man sich vor Augen führen, wozu genau Kants transzendentales Subjekt der Gegenentwurf war: nämlich zum puritanischen Materialismus à la Diderot und zum stilisierten Skeptizismus à la Voltaire, also zu dem, was man allgemein Aufklärung nennt. In Wahrheit ist aber die gesamte Aufklärung vor Kant ein Postbarock, eine Art erste Postmoderne, ein Durcharbeiten der Schrecken und Irrtümer der großen Globalisierungsschocks des Spätmittelalters, dieser gewaltigen Genozide und religiösen Weltkriege, die mit der Entdeckung Amerikas eingesetzt hatten und bis zu den amerikanischen Unabhängigkeitskriegen und der Geburt der Nation als neues religiöses Prinzip im späten 18. Jahrhundert dauern sollten. Und dann – Zack! – kommt auf einmal Kant, dieser Badiou des 18. Jahrhunderts, der das Metaphysische mathematisch fasst, der den Empirismus und den Dualismus überwindet, der das Subjekt zurückführt ins An-sich-Seiende. Denn bei Kant ist das Subjekt, und das ist die gewaltige Revolution, kein kritisches Konzept mehr, nein, es hat gerade in seiner Subjektivität Zugang zur Meta-Kritik, also zu jenen Begriffen, die dem Wirklichen erst Kontur geben: vom Raumempfinden aufwärts bis zur Wahrheit, zur Gerechtigkeit, zu Gott und damit zur Humanität. Es ist klar: der Kantische Universalismus und damit seine Subjekt-Philosophie sind theoretische Grenzbegriffe und damit völlig ahistorisch (wie Feuerbach bekanntlich festgestellt hat). Ich persönlich denke aber, dass Konzepte wie Das Recht (oder Das Antagonistische, Das Politische, ja Das Schöne) ohne diese Kantische Komponente nicht zu verstehen sind, ohne dieses messianische Element eines quasi-göttlichen Subjektivierungs-Akts, in dem der Einzelne aus seiner geschichtlichen Bedingtheit heraustritt und exemplarisch Gerechtigkeit, Wahrheit, Schönheit aus seiner einfachsten Qualität heraus schafft – nämlich der, Mensch zu sein. Aber der entscheidende Punkt ist hier, und ich beharre immer wieder darauf: Die Transzendentalität des Subjekts ist ein Konzept, es ist nicht gegeben, es muss künstlich hergestellt werden und existiert nur im kartografierten Raum des geistigen oder agonalen Spiels. Denn da es sich um einen theoretischen Grenzbegriff handelt (und nicht um eine empirische Bestimmung), kann das Subjektive nur in einer theoretischen Rahmung, gemäß einer (immer neu zu findenden) Spielanleitung realisiert werden. Und das ist die ganze Wahrheit über das, was man Schauspiel nennt und der Grund, warum das postmoderne Konzept des Authentischen oder des mit sich selbst deckungsgleichen Experten (Voltaires oder Rousseaus naive Helden, die in Camus‘ Fremden und den heutigen Laienschauspielern wiederkehren) künstlerisch unbefriedigend bleiben bzw. meine Arbeit vollkommen verfehlen. Realismus ist ohne Transzendenz nicht denkbar, Humanität ist – um nicht Zynischer Humanismus zu sein – ein meta-humanes Konzept. Und während Kant das einfach mathematisch kühl feststellt, macht Hegel etwas Heroisches und Köstliches daraus mit der Wirklichkeit eines objektiven Geistes und dem Bezug zum Genialen.
Rolf Bossart: Was bedeutet diese Hegelsche Zutat?
Milo Rau: Interessant ist der Vorgang, dass nach der Postmoderne immer vormoderne Dinge wiederkehren, die scheinbar überwunden schienen durch die vorangegangene Moderne und sich wieder verbinden mit der Hypermoderne. So wie zum Beispiel Hegel, der mit seinem Begriff des Heroischen wieder zurückgeht auf das vormoderne, antike Verständnis des Charakters bzw. der Figur in der Tragödie.
Rolf Bossart: Die postmodernen Konzepte befassen sich kritisch-skeptisch mit den unerfüllten Versprechen der Moderne zur Überwindung des Alten. Zugleich lehnen sie aber dessen Aktualisierung, Transformierung, Wiederverwendung, die ja immer wesentlich zu jeder Modernisierung gehören, ab und verursachen selber einen Innovationsstau, der ironischerweise wieder einer neuen Moderne zum Durchbruch verhelfen kann.
Milo Rau: Im Grunde genommen müsste man ein neues Systemprogramm aufstellen für die jetzige Zeit. Wenn man historisch denkt, ist es klar, dass Kant und nach ihm die ganzen Romantiker nicht einfach herbeitrippeln können, wenn nicht vorher die ganze Dekonstruktion der Aufklärung stattgefunden hätte. Dieselben Ideen können, wenn sie beispielsweise präpostmodern geäußert werden, reiner Retrokitsch sein oder sie können jenes Neue sein, das das Alte, dem sie entstammen, selbst einmal war. Erst dann nämlich, wenn die Dekonstruktion an ihr Ende gekommen ist, lässt sich sagen: Okay, das war alles richtig und notwendig, aber trotzdem! Und für das Trotzdem, für diesen Klartext, jenseits aller erkenntnistheoretischen Bedenken, ist jetzt die Zeit.
Im Grunde genommen müsste man ein neues Systemprogramm aufstellen für die jetzige Zeit. Wenn man historisch denkt, ist es klar, dass Kant und nach ihm die ganzen Romantiker nicht einfach herbeitrippeln können, wenn nicht vorher die ganze Dekonstruktion der Aufklärung stattgefunden hätte. Dieselben Ideen können, wenn sie beispielsweise präpostmodern geäußert werden, reiner Retrokitsch sein oder sie können jenes Neue sein, das das Alte, dem sie entstammen, selbst einmal war. Erst dann nämlich, wenn die Dekonstruktion an ihr Ende gekommen ist, lässt sich sagen: Okay, das war alles richtig und notwendig, aber trotzdem! Und für das Trotzdem, für diesen Klartext, jenseits aller erkenntnistheoretischen Bedenken, ist jetzt die Zeit.