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Was bedeutet heute »emanzi­patorisch«?

Alexander García Düttmann

Kalte Distanz

Veröffentlicht am 25.10.2018

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Tun wir noch einmal so, als wäre die Welt noch zu retten, fragen wir noch einmal kritisch nach einem emanzipatorischen Potential, das der Kunst innewohnen soll, danach, was aus diesem Potential geworden ist, ob und wie man es der Kunst noch zuschreiben kann, wenn die Erschöpfung der künstlerischen Form sich auch darin äußert, dass nunmehr alles unter dem Aspekt der Form wahrgenommen wird, des Designs oder der Inszenierung von Waren im sogenannten ästhetischen Kapitalismus. Denn diese Ubiquität der künstlerischen Form geht auch mit ihrem Gegenteil einher oder vielmehr mit ihrem Komplement, einer moralistischen Festschreibung von Form, die sich fortschrittlich gebärdet, so, als würde es ihr eben um etwas zu tun sein, das ein emanzipatorisches Potential betrifft, eine befreiende Veränderung der Gesellschaft.

Noch einmal so zu tun, als wäre die Welt noch zu retten, noch einmal nach dem emanzipatorischen Potential zu fragen, das der Kunst innewohnen soll, kann nur dadurch ein sinnvolles Unternehmen sein, dass es sich gegen die Usurpation des emanzipatorischen Potentials richtet, gegen jene Abschaffung, die die Gestalt einer Usurpation annimmt. Kritik, die den Namen verdient, muss an erster Stelle die falschen Prätendenten bekämpfen, nicht jene, die gar nicht den Anspruch erheben, Prätendenten zu sein. Das macht die Wirksamkeit ihres propädeutischen Charakters aus. Befürchtet man, in ihrer Negativität liege die Gefährdung durch eine Ohnmacht, will man sie deshalb durch einen begründenden, konstruktiven Affirmationismus ergänzen – einmal sollte sie den Entwurf einer von aller vorkritischen Dogmatik gereinigten Metaphysik vorbereiten –, so vergisst man, dass eine Kritik, die sich rückversichern und ihren Ort in einem umfassenden Zusammenhang behaupten soll, in dem ein weiterer Prätendent ins Feld geschickt wird, der sich um das emanzipatorische Potential bemüht, kaum mehr weh tut und kaum einen Impuls mehr auslöst. Zwischen dem Auslösen eines Impulses, der die praktische Dimension von Kritik ausmacht und von dem noch ihre kognitive abhängt, das Erkennen von etwas, und dem Versuch, den Impuls einem bestimmten Zweck zu unterstellen, klafft stets eine unüberbrückbare Lücke. Deshalb eignet Kritik, je berechtigter sie ist, um so merklicher ein anarchisches Moment, das man nicht funktionalisieren oder instrumentalisieren darf. Sonst droht ihre Spitze abzubrechen.

Eine erste These könnte folglich lauten: Die ideologische und repressive Reaktionsbildung auf die Ubiquität der Form im ästhetischen Kapitalismus, die ein Symptom ihrer Erschöpfung ist, muss in einem Moralismus der Form gesucht werden, der es auf das Denken abgesehen hat, in der Kunst oder in der Philosophie, das Denken, dessen Praxis es allein...

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Alexander García Düttmann

Alexander García Düttmann

ist Philosoph und Übersetzer zahlreicher philosophischer Werke. Er lehrt am Institut für Kunstgeschichte und Ästhetik der Universität der Künste in Berlin.

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