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Jacques Rancière: Denken zwischen den Disziplinen
Denken zwischen den Disziplinen
(S. 81 – 102)

Eine Ästhetik der (Er)kenntnis

Jacques Rancière

Denken zwischen den Disziplinen
Eine Ästhetik der (Er)kenntnis

Was hat man unter der Anrufung einer »Ästhetik der Erkenntnis« zu verstehen? Die These, die Rancière vorstellen möchte, ist einfach und lautet: Von einer ästhetischen Dimension der Erkenntnis sprechen heißt von einer Dimension der Unwissenheit sprechen, welche die Idee selber und die Praxis der Erkenntnis zerteilt. Ästhetik ist ein historisch festgelegter Begriff, der ein spezifisches System der Sichtbarkeit und Verständlichkeit der Kunst bezeichnet, der sich in eine Rekonfiguration der Kategorien der sinnlichen Erfahrung und ihrer Interpretation einschreibt. Die Erkenntnis kann nicht ästhetisch sein. Ästhetik ist in der Tat die Teilung der Erkenntnis, die Störung jener Ordnung der sinnlichen Erfahrung, die gesellschaftliche Positionen mit Geschmäckern und Einstellungen, Wissensbereichen und Illusionen in Übereinstimmung bringt. In dem Moment aber, wo die Philosophie ihren Status als Disziplin der Disziplinen begründen will, tritt diese Umkehrung ein: die Grundlage der Grundlage ist eine Geschichte. Die Philosophie sagt den Wissen(schaften), die sich ihren Methoden sicher sind: Methoden sind Geschichten, die man erzählt. Das soll sagen, dass sie Waffen in einem Krieg sind; sie sind keine Werkzeuge, die es erlauben, ein Bereich auszuschlachten, sondern Waffen, die dazu dienen, seine stets unsichere Grenze festzulegen.



Was ist unter der Anrufung einer »Ästhetik der Erkenntnis« zu verstehen? Offenbar geht es nicht darum, dass die Formen der Erkenntnis eine ästhetische Dimension hinzuziehen sollten. Der Ausdruck setzt voraus, dass eine solche Dimension nicht beizufügen ist wie ein zusätzliches Ornament, sondern ohnehin da ist, als eine unmittelbare Gegebenheit der Erkenntnis. Es bleibt zu sehen, was dies beinhaltet. Die These, die ich vorstellen möchte, ist einfach: Von einer ästhetischen Dimension der Erkenntnis sprechen, heißt von einer Dimension der Unwissenheit sprechen, welche die Idee selber und die Praxis der Erkenntnis zerteilt.


Diese Aussage beinhaltet natürlich eine vorhergehende These zu dem, was »Ästhetik« heißt: Ästhetik ist nicht die Theorie des Schönen oder der Kunst, und auch nicht die Theorie der Sinnlichkeit. Ästhetik ist ein historisch bestimmter Begriff, der ein spezifisches Regime der Sichtbarkeit und Verständlichkeit der Kunst bezeichnet, der sich in eine Rekonfiguration der Kategorien sinnlicher Erfahrung und ihrer Interpretation einschreibt. Diesen neuen Typ sinnlicher Erfahrung hat Kant in der Kritik der Urteilskraft in ein System gebracht. Ästhetische Erfahrung beinhaltet für ihn eine gewisse Entkoppelung der üblichen Bedingungen sinnlicher Erfahrung. Er fasst dies in einer doppelten Verneinung zusammen. Der Gegenstand ästhetischer Auffassung ist dadurch gekennzeichnet, dass er weder Gegenstand der Erkenntnis noch des Begehrens ist. Die ästhetische Beurteilung einer Form ist ohne Begriff. Sie ist keine Funktion des Wissens, wonach ein Künstler ein gegebenes Material formt. 


Die Ursachen des Schönen scheiden sich also von den Ursachen der Kunst. Sie trennen sich aber auch von den Ursachen, die einen Gegenstand begehrenswert oder abscheulich machen. Nun definiert die doppelte Verneinung nicht nur die neuen Bedingungen der Beurteilung der Dinge der Kunst. Sie bestimmt auch eine gewisse Aufhebung der normalen Bedingungen gesellschaftlicher Erfahrung. Kant veranschaulicht das am Anfang der Kritik der Urteilskraft am Beispiel eines Palastes, bei dem das ästhetische Urteil die Form allein für sich nimmt und sich weder dafür interessiert, ob der Palast die Eitelkeit eines adeligen Müßiggängers bedient noch wieviel Schweiß von den Männern des Volkes für seine Errichtung vergossen werden musste. Um die Form des Palastes ästhetisch zu beurteilen, sagt Kant, muss man dies nicht wissen, man muss es ignorieren. 


Dieser von Kant erklärte Wille zum Nichtwissen sorgt nach wie vor für Aufregung. Pierre Bourdieu widmete 600 Seiten der Darlegung einer einzigen These: Dieses Nichtwissen ist die absichtliche Verkennung dessen, was die Wissenschaft der Soziologie uns durch genauste Maßstäbe lehrt, nämlich dass das interesselose ästhetische Urteil das Privileg derer ist, die sich vom soziologischen Gesetz absondern können – oder meinen, es zu können –, das dafür sorgt, dass jede Klasse der Gesellschaft die Geschmacksurteile hat, die ihrem ethos entsprechen, d. h. der ihr durch ihre Lage auferlegten Art und Weise zu leben und zu fühlen. Das interesselose Urteil über die Formschönheit des Palastes ist jenen vorbehalten, die weder Palasteigentümer noch Bauarbeiter sind. Es ist jenem intellektuellen Kleinbürgertum eigen, das sich zwischen Kapital und Arbeit einrichtet und den Platz des universellen Denkens und des interesselosen Geschmacks einnimmt. Ihre Ausnahme bestätigt also die Regel, dergemäß Geschmacksurteile eigentlich gesellschaftliche Urteile sind, die ein bestimmtes gesellschaftliches ethos wiedergeben.


Bourdieus Urteil ebenso wie das aller Denunzianten ästhetischer Illusion beruht auf einer einfachen Alternative: Man erkennt oder man verkennt. Man verkennt, weil man nicht zu sehen weiß oder nicht sehen will. Aber nicht sehen wollen ist immer noch eine Art, nicht zu sehen zu wissen. Wer das – Philosoph oder Kleinbürger – im Glauben an den interesselosen Charakter des ästhetischen Urteils leugnet, will nicht sehen, weil er nicht sehen kann, weil der Platz, den er im System innehat, für ihn wie für alle anderen eine Weise der Anpassung festlegt, die eine Form der Verkennung bestimmt. Kurz gesagt bestätigt die ästhetische Illusion, dass die Subjekte einem System unterworfen sind, weil sie seine Funktionsweise nicht kennen. Und die Funktionsweise kennen sie nicht, weil das Funktionieren dieses Systems eben das Funktionieren seiner Verkennung ist. Der Gelehrte ist derjenige, der die Identität der Ursachen des Systems und der Ursachen seiner Verkennung erkennt.


Diese Anordnung der Erkenntnis beruht auf einer einfachen Alternative: Es gibt ein wahres Wissen, das weiß, und ein falsches Wissen, das nicht weiß. Das falsche Wissen unterjocht, das wahre Wissen befreit. Nun legt die ästhetische Neutralisierung des Wissens nahe, dass dieses Schema zu einfach ist. Es legt nahe, dass nicht bloß ein Wissen betroffen ist, sondern zwei, dass jedes Wissen mit einer gewissen Unwissenheit einhergeht, es somit ein Wissen gibt, das unterjocht, und eine Unwissenheit, die befreit. Der Bauarbeiter ist nicht deshalb unterworfen, weil er nicht um die Ausbeutung weiß, die er zugunsten der Palastbewohner erfährt, sondern weil er sie nicht ignorieren kann, weil seine Lage es ihm verbietet, sich einen anderen Körper und einen anderen Blick als den eines Unterworfenen zu schaffen, weil sie ihn daran hindert, im Palast etwas anderes zu sehen, als die Summe der darin investierten Arbeit und des Müßiggangs, der davon Besitz ergreift. Mit anderen Worten, ein »Wissen« ist immer zwei Dinge in einem: eine Gesamtheit von Kenntnissen und eine bestimmte Verteilung von Positionen. Vom Bauarbeiter wird erwartet, ein zweifaches Wissen besitzen: das der technischen Handgriffe seines Berufs und das von seiner Lage. Doch jede dieser Kenntnisse ist die Kehrseite einer Unwissenheit: Von dem, der mit seinen Händen zu arbeiten weiß, wird erwartet, dass ihm jener Blick fremd ist, der die Adäquation seiner Arbeit an einen höheren Zweck zu beurteilen vermag. Deshalb weiß er, dass er auf seinem Platz zu bleiben hat. Doch zu sagen, dass er es »weiß«, heißt tatsächlich zu sagen, dass es nicht an ihm ist zu wissen, was das System der Plätze zu sein hat. 


Platon hat die Sache ein für allemal erklärt: Die Handwerker können sich aus zwei Gründen nicht um die Belange der Stadt kümmern – erstens, weil die Arbeit nicht warten kann; zweitens, weil Gott Eisen in die Seele der Handwerker getan hat und Gold in die Seele derer, die die Stadt führen müssen. Anders gesagt, ihre Beschäftigung definiert Tauglichkeiten (und Untauglichkeiten), und umgekehrt bestimmen ihre Tauglichkeiten sie zu einer bestimmten Beschäftigung. Es ist nicht notwendig, dass die Handwerker im Grunde ihrer Seele davon überzeugt sind, dass Gott ihnen Eisen in die Seele getan hat und Gold in die ihrer Oberhäupter. Es genügt, dass sie täglich so handeln, als sei dies der Fall; es genügt, dass ihre Arme, ihr Blick und ihr Urteil das Wissen auf ihrem Gebiet mit dem Wissen um ihre Lage in Einklang bringen und umgekehrt. Darin ist keinerlei Illusion, keinerlei Verkennung. Es handelt sich um »Glauben«, sagt Platon. Doch Glaube ist nicht Illusion, die sich der Erkenntnis entgegenstellt und eine Wirklichkeit verbirgt. Er ist eine festgelegt Beziehung zweier »Kenntnisse« und der beiden ihnen entsprechenden »Unwissenheiten«. 


Dieses Dispositiv nun wird durch die ästhetische Erfahrung durcheinander gebracht. Was bedeutet, dass es hier um weit mehr geht als um die Art und Weise, Kunstwerke zu beurteilen. Es geht um die Bestimmung eines Typs von Erfahrung, der die zirkuläre Beziehung von der Kenntnis als Wissen und der Kenntnis als Verteilung der Plätze neutralisiert. Die ästhetische Erfahrung entgeht der wahrnehmbaren Verteilung der Plätze und Kompetenzen, die die hierarchische Ordnung strukturiert. 


Nach Meinung des Soziologen ist dies nur die Illusion des Philosophen, der an die interesselose Universalität des Urteils über das Schöne glaubt, weil er die Bedingungen, die das Geschmacksempfinden des Bauarbeiters an seiner Seinsweise festmachen, ignoriert. Aber der Bauarbeiter glaubt darin eher Platon als dem Soziologen. Was er braucht, und was ästhetische Erfahrung bedeutet, ist der Wandel eines Glaubensregimes, der Wandel der Beziehung zwischen dem, was die Arme auszuführen wissen, und dem, was die Augen in der Lage sind zu beobachten.


Das sagt uns, fünfzig Jahre nach Kant, in einer Arbeiterzeitschrift zur Zeit der Revolution von 1848 ein Bauarbeiter, der uns vorgeblich seinen Arbeitstag erzählt, dabei aber seine persönliche Paraphrase der Kritik der Urteilskraft zu schreiben scheint. Ich zitiere einen Auszug seines Textes: »Im Glauben bei sich zuhause zu sein, schätzt er die Aufteilung des Zimmers, bis er mit dem Verlegen des Parketts fertig ist. Öffnet sich das Fenster auf einen Garten oder erhebt es sich über einen malerischen Horizont, lässt er einen Moment lang die Arme ruhen und bildet sich ein, in Richtung der weiträumigen Aussicht zu gleiten, um sie mehr noch als die Eigentümer benachbarter Wohnungen zu genießen.«


Zu ignorieren, wem das Haus und die Aussicht gehören, als ob man besäße, woran der Blick sich erfreut, bedeutet eine tatsächliche Trennung zwischen Armen und Blick vornehmen, eine Trennung zwischen einer Beschäftigung und den ihr entsprechenden Tauglichkeiten. Es heißt, ein als ob gegen ein anderes also ob tauschen. Platon erzählte Geschichten, Mythen, um die technischen Kenntnisse einer Kenntnis der »Zwecke« unterzuordnen. Ein solches Wissen der Zwecke ist für die Errichtung einer hierarchischen Ordnung notwendig. Leider ist die Stütze, die der Verteilung der Wissen und Positionen als Fundament dient, ohne beweisbare Grundlage. Sie ist vorauszusetzen, und deshalb ist eine Geschichte zu erzählen, die – im oben definierten Sinne – »geglaubt« werden muss.


Die Erkenntnis, sagt uns Platon, braucht Geschichten, weil sie tatsächlich stets doppelt ist. Er beabsichtigt jedoch, diese Geschichten in einen ethischen Rahmen einzugrenzen. »Ethik« ist wie »Ästhetik« ein Wort, dessen Sinn genauer bestimmt werden muss. Man setzt sie gerne mit der Instanz gleich, die besondere Tatsachen gemäß besonderer Werte beurteilt. Das ist aber nicht das, was »ethos« zuallererst heißt. Bevor es Gesetz, Moral oder Wert meint, bedeutet »ethos« Aufenthaltsort. Ferner meint es die Seinsweise, die diesem Aufenthaltsort entspricht, die Art und Weise zu fühlen und zu denken, die demjenigen gemäß ist, der diesen oder jenen Platz einnimmt. Genau das wird in den platonischen Mythen verhandelt. Platon erzählt Geschichten, die die Weise vorschreiben, wie die, denen eine Lage zu eigen ist, diese Lage zu leben haben. Was heißt, dass er seine »poetischen« Produktionen in einen Rahmen einschreibt, wo sie Lektionen sind, wo der Dichter ein Lehrer des Volkes ist, ein guter oder ein schlechter. Was heißt, dass es für ihn keine »Ästhetik« gibt. 


»Ästhetik« bedeutet in der Tat eine »Zweckmäßigkeit ohne Zweck«, ein von jeder Wissenschaft der Zwecke entkoppeltes Vergnügen. Das ist eine Veränderung des Status des als ob. Der ästhetische Blick, der auf die Form des Palastes zielt, ist ohne Beziehung zu seiner funktionellen Perfektion und zu seiner Einschreibung in eine Gesellschaftsordnung. Er verfährt, als ob er sich lösen könnte von dieser doppelten Beziehung des Palastes zu dem in seine Errichtung investierten Wissen und zu dem Wissen der Gesellschaftsordnung, die er in Szene setzt. Der Handwerker handelt folglich so, als ob er in dem Haus, von dem er im Übrigen weiß, dass es nicht seines ist, bei sich zuhause sei, als ob er die Aussicht auf seinen Garten besitze. Dieser »Glaube« verbirgt keine Realität. Aber er verdoppelt diese Realität, von der die ethische Ordnung möchte, dass sie ihm als eine gegeben sei. Infolgessen kann er seine Identität als Arbeitender verdoppeln und seiner Identität als Arbeiter, der ein bestimmtes Metier ausübt, eine Identität als Proletarier hinzufügen, d. h. die Identität eines Subjekts, das fähig ist, seiner Zuweisung zu einer privaten Lage zu entkommen und in die Belange der Gemeinschaft einzugreifen.


Es ist diese Verdoppelung, die der Soziologe ablehnt. Für ihn kann das als ob nur Illusion sein. Die Erkenntnis kann nicht ästhetisch sein. Vielmehr hat sie das Gegenteil der Ästhetik zu sein. Ästhetik ist in der Tat die Teilung der Erkenntnis, die Störung jener Ordnung der sinnlichen Erfahrung, die gesellschaftliche Positionen mit Geschmäckern und Einstellungen, Wissensbereichen und Illusionen in Übereinstimmung bringt. Bourdieus Polemik gegen die Ästhetik ist nicht das Werk eines einzelnen Soziologen zu einem besonderen Aspekt gesellschaftlicher Realität. Sie ist struktureller Art. Sie betrifft die Möglichkeit der Soziologie als Disziplin. Tatsächlich ist eine Disziplin zunächst nicht die Bestimmung einer Gesamtheit von Methoden, die einem bestimmten Gebiet oder Typ von Gegenstand angemessen sind. Sie ist zuallererst die Schaffung dieses Gegenstandes als Gegenstand des Denkens, die Darlegung einer bestimmten Vorstellung von Erkenntnis, d. h. einer bestimmten Idee von der Beziehung zwischen der Erkenntnis und der Verteilung von Positionen.


Genau das heißt Disziplin. Eine Disziplin ist immer etwas anderes als die Erkundung eines Wissensgebietes. Sie ist die Einrichtung dieses Gebietes, die Darlegung einer Vorstellung des Wissens. Eine Vorstellung des Wissens meint eine Regulierung der Beziehung zwischen den beiden Wissen und den beiden Unwissenheiten. Sie ist eine Art und Weise, eine Vorstellung des Denkbaren zu definieren. Die Vorstellung des Denkbaren ist eine Vorstellung dessen, was die Gegenstände des Wissens selbst denken und erkennen können. Immer es also eine bestimmte Regulierung des Dissens, der Abweichung in Bezug auf die ethische Ordnung, wonach eine bestimmte Lage einen bestimmten Denktyp impliziert. 


Diese Inszenierung des Denkbaren ist am Werk, wenn Bourdieu das Dispositiv der Sätze und Photographien konstruiert, das bestätigt, dass vornehme und einfache Klassen, was auch immer Kant dazu sagen mag, den ihrer Stellung entsprechenden Geschmack annehmen. Bekanntlich werden die dabei verwendeten Fragebögen insbesondere gemacht, um »Allodoxie«-Phänomene zu vermeiden. Wenn man etwa einem einfachen Publikum die Meinung »Ich mag klassische Musik, zum Beispiel die Walzer von Strauß« vorlegt. Die Meinung ist formuliert, um Arbeitern eine Falle zu stellen, die lügen würden, wenn sie sagten, sie mögen klassische Musik, sich aber verrieten, weil sie nicht wissen, dass Strauß kein Anrecht auf die Würde eines Komponisten klassischer Musik hat.


Offenkundig setzt hier die soziologische Methode das Ergebnis voraus, das sie angeblich feststellen will. Anders gesagt ist die Wissenschaft, bevor sie eine Methode zur Untersuchung der Phänomene von Orthodoxie und Allodoxie ist, eine Orthodoxie, eine Kriegsmaschine gegen die Allodoxie. Was sie Allodoxie nennt, ist tatsächlich der ästhetische Dissens, das Auseinander von Armen und Blick des Tischlers, die wahrnehmbare Unterbrechung der Beziehung zwischen dem Körper und dem, was er kennen kann – im doppelten Sinne von kennen und erkennen. Die Abrechnung der Soziologie mit Kant ist zuerst eine Abrechnung mit unserem Tischler. Die Soziologie ist, noch bevor sie eine an der Universität unterrichtete Disziplin neben anderen wird, eine Kriegsmaschine, erfunden im Zeitalter der Ästhetik – das auch das Zeitalter demokratischer Revolutionen ist –, als Antwort auf die Unruhen dieses Zeitalters. 


Bevor sie »Wissenschaft von der Gesellschaft« wurde, war die Soziologie historisch gesehen das Projekt einer Neugestaltung der Gesellschaft. Sie wollte der vorgeblich durch philosophische Abstraktion, protestantischen Individualismus und revolutionären Formalismus zerrissenen Gesellschaft einen neuen Körper schaffen. Sie wollte ein soziales Gewebe wiederherstellen, wo die an diesem oder jenem Platz sich befindenden Individuen und Gruppen das ethos haben würden, die Art und Weise zu fühlen und zu denken, die sowohl diesem Platz als auch der kollektiven Harmonie entspricht. Die heutige Soziologie hat von dieser organizistischen Sicht der Gesellschaft gewiss Abstand genommen. Sie fährt aber fort, zum Wohle der Wissenschaft zu wollen, was diese zum Wohle der Gesellschaft wollte: eine Regel der Übereinstimmung zwischen den gesellschaftlichen Bedingungen und den Einstellungen und Urteilen derer, die ihr angehören. Der wissenschaftliche Krieg gegen die Allodoxie der Urteile setzt den politischen Krieg gegen die »Anomie« der Verhaltensweisen fort, den Krieg gegen die ästhetische und demokratische Unruhe der innwendigen Teilung des Volkskörpers. 


Darin tritt sie in polemische Komplizenschaft mit dem ethischen Projekt Platons. Sie lehnt ab, was der Philosoph kundtut: dass die Ungleichheit ein Kunstgriff sei, eine aufzuerlegende Geschichte. Sie will, dass diese eine in den gesellschaftlichen Verhaltensweisen verkörperte und in den Urteilen, die diese Verhaltensweisen implizieren, verkannte Realität sei. Sie will, dass das, was die Wissenschaft weiß, dasjenige sei, was ihre Gegenstände nicht wissen. 


Ich habe das Beispiel der Soziologie gewählt. Ich hätte ebenso das Beispiel der Geschichte nehmen können. Bekanntlich ist diese Disziplin seit gut einem Jahrhundert in Umwälzung begriffen. Sie verkündete einst ihre Ablösung von der alten chronikalischen Geschichtsschreibung, die an den Lebensereignissen bedeutender Gestalten und an den Dokumenten von deren Chronisten, Sekretären und Botschaftern festhält, um sich den materiellen Tatsachen und langen Zeitabschnitten des Lebens des niederen Volkes zu widmen. Sie knüpfte somit ihre Wissenschaftlichkeit an eine bestimmte Demokratie. Klar ist, dass diese Demokratie auch eine Demokratie gegen eine andere ist. Sie stellt die materiellen Realitäten langer Lebenszyklen den heftigen Bewegungen an der Oberfläche gegenüber, wie die Ablenkung des Blickes des Bauarbeiters und das kurzlebige Revolutionsblatt, wo er davon erzählt. Geschichte ist nach Marc Bloch die Wissenschaft der Menschen in der Zeit. Aber dieses »in der Zeit« ist tatsächlich eine Aufteilung von Zeiten. Sie bestätigt, dass die wahre Zeit des Bauarbeiters die lange Zeit des sich fortpflanzenden Lebens ist, nicht die angehaltene Zeit der ästhetischen Erfahrung und dass, wohin sie sie umlenkt: die »kurze« Zeit, die »flüchtige« Zeit der Akteure der öffentlichen Bühne. Sie funktioniert als ethisches Prinzip der Zugehörigkeit, die bestimmt, was die Bewohner eines Raums und einer Zeit fühlen und denken können. Die »neue Geschichte«, die Geschichte des materiellen Lebens und der Mentalitäten gehört dem gleichen Krieg an wie die Soziologie.


Von Krieg sprechen heißt nicht, die besagten Disziplinen herabzusetzen. Es verweist darauf, dass eine Disziplin stets mehr ist als eine Gesamtheit der Verfahren, die einen gegebenen Bereich von Gegenständen zu denken erlauben. Sie ist zuerst die Schaffung dieses Bereichs, die Errichtung einer bestimmten Verteilung des Denkbaren. Das setzt voraus, im gemeinschaftlichen Gewebe der Äußerungen des Denkens und der Sprache Schnitte vorzunehmen. Die Disziplinen begründen ihr Gebiet, indem sie einen Abstand errichten zwischen dem, was die Sätze des Tischlers sagen und was sie eigentlich meinen, dem, was er uns beschreibt, und der hinter seiner Beschreibung verborgenen Wahrheit. Sie müssen also seinen Anspruch, ein anderes als seiner Lage angemessenes Wissen und Unwissen zu haben, bekriegen. Sie müssen den Krieg aufnehmen gegen den Krieg, den er selber führt. Die wohlgeordnete Gesellschaft will, dass die Körper die ihr entsprechenden Wahrnehmungen, Empfindungen und Gedanken haben. Doch dieser Verbund ist dauernd gestört. Da sind Worte und Diskurse, die frei und herrenlos zirkulieren, und die Körper von ihrer Bestimmung abbringen, um sie um bestimmte Worte herum in Bewegung zu setzen: Volk, Freiheit, Gleichheit etc. Da sind Schauspiele, die den Blick von der Hand trennen und den Arbeiter zum Ästheten machen. Das disziplinäre Denken muss diesem Aderlass dauernd entgegenwirken, um zwischen den Körpern und den ihnen entsprechenden Wahrnehmungs- und Bedeutungsweisen stabile Beziehungen zu errichten. Es muss unentwegt Krieg führen, aber als Unternehmen zur Friedensstiftung.


Ein un-disziplinäres Denken ist also ein Denken, das von Neuem den Krieg inszeniert, »das Grollen der Schlacht«, von dem Foucault spricht. Dafür muss es eine gewisse Unwissenheit praktizieren. Es muss die Grenzen der Disziplinen ignorieren, um die Diskurse wieder auf ihren Status als Streitwaffen zu bringen, wie ich es tat, als ich die Sätze des Bauarbeiters ihrem normalen Rahmen entnahm. Dieser normale Rahmen wäre derjenige der Sozialgeschichte, die sie als Äußerungen der Lage der Arbeiter behandelt. Ich habe anders Partei ergriffen: Diese Sätze beschreiben keine erlebte Situation. Sie erfinden die Beziehung zwischen einer Situation und den ihr beigegebenen Formen der Sichtbarkeit und Kapazitäten des Denkens neu. Diese Erzählung ist anders gesagt ein Mythos im platonischen Sinn; sie ist ein anti-platonischer Mythos, eine Gegen-Schicksalsgeschichte. Der platonische Mythos schreibt die Beziehung wechselseitiger Bestätigung zwischen einer Lage und einem Denken vor. Der Gegen-Mythos des Bauarbeiters unterbricht den Zirkel. Die undisziplinäre Herangehensweise muss also den Raum von Text und Bedeutung erschaffen, wo diese Beziehung von Mythos zu Mythos sichtbar und denkbar ist.


Das setzt die Schaffung eines Raumes ohne Grenzen voraus, der auch ein Raum von Gleichheit ist, wo der Lebensbericht des Bauarbeiters mit der philosophischen Erzählung der Aufteilung von Kompetenzen und Schicksalen in Dialog tritt. Das impliziert eine andere – undisziplinäre – Praxis der Philosophie und ihrer Beziehung zu den Humanwissenschaften. Klassisch gilt die Philosophie als eine Art Super-Disziplin, die über die Methoden der Human- und Sozialwissenschaften reflektiert oder deren Grundlage liefert. Man errichtet so eine hierarchische Ordnung im Diskursuniversum. Gewiss können diese Wissenschaften diesen Status zurückweisen, ihn als Illusion abhandeln und sich als das wahre Wissen philosophischer Illusion setzen. Das ist eine andere Hierarchie, eine andere Art und Weise, die Diskurse an ihren Platz zu setzen. Eine dritte mögliche Vorgehensweise wäre, den Moment zu ergreifen, da der philosophische Anspruch, die Ordnung der Diskurse zu begründen, sich umkehrt und in der auf Gleichheit beruhenden Sprache der Erzählung die Willkürlichkeit dieser Ordnung verkündet.


Die Besonderheit des platonischen »Mythos« zeigt sich darin, wie er umgekehrt die Ursachen des Wissens auf die reine Willkürlichkeit der Fabel herunterholt. Während Historiker und Soziologen uns zeigen, wie ein bestimmtes Leben ein bestimmtes Denken produziert, das ein Leben zum Ausdruck bringt, verweist der Mythos des Philosophen diese Notwendigkeit auf die Willkür einer schönen Lüge, die zugleich die Lebensrealität der meisten ist. Diese Identität von Notwendigkeit und Kontingenz, Realität und Lüge lässt sich nicht in Form eines Diskurses rationalisieren, der die Wahrheit von der Illusion trennt. Sie lässt sich nur erzählen, d. h. sie lässt sich nur in diskursiver Form aussprechen, die die Unterscheidung und die Hierarchie der Diskurse aufhebt. Das Privileg der Philosophie – entgegen des ihr gewöhnlich vorgehaltenen Verdienstes oder Vorwurfs der Abstraktion – ist also die wortgetreue Offenheit ihres Diskurses: die Offenheit, mit der sie es verstanden hat, diesen Zustand der allerersten Identität von Ursachen und Erzählungen auszusprechen, der allein es erlaubt, die Aufteilung der Leben zu äußern.


Eben hier, sagt Platon im Phaidros, muss man wahr sprechen, dort, wo man von der Wahrheit spricht. Eben hier beruft er sich auch auf die radikalste Fabel: die vom Gefilde der Wahrheit, vom göttlichen Gespann und vom Sturz, der die einen in Menschen, die Geld haben, verwandelt, die anderen in Turner, Handwerker oder Dichter. Das heißt umgekehrt, dass er in dem Moment, da er am unerbittlichsten die Verteilung der Zustände ausspricht, sich auf das beruft, was er am radikalsten leugnet, nämlich die Macht der Fabel und die der Gemeinsprache, die die Hierarchie der Diskurse und die von ihr getragenen Hierarchien beseitigt.


Disziplinäres Denken besagt: Wir haben unser Gebiet, unsere Gegenstände und die dementsprechenden Methoden. Ebendies sagen die Soziologie oder Geschichtswissenschaft, Politikwissenschaft oder Literaturtheorie und für gewöhnlich auch die Philosophie, wenn sie sich selbst als Disziplin setzt. Will sie aber ihren Status als Disziplin der Disziplinen begründen, tritt sogleich diese Umkehrung ein: Die Grundlage der Grundlage ist eine Geschichte. Die Philosophie sagt den Wissen, die sich ihren Methoden sicher sind: Methoden sind Geschichten, die man erzählt. Das heißt nicht, dass sie null und nichtig sind, sondern dass sie Waffen in einem Krieg sind; keine Werkzeuge, die es erlauben, ein Gebiet auszuschlachten, sondern Waffen, die dazu dienen, seine stets unsichere Grenze festzulegen.


Denn keine gesicherte Grenze trennt das Gebiet des Soziologen von dem des Philosophen oder das des Historikers von dem der Literatur. Keine scharf gezogene Grenze trennt den Diskurs des Tischlers, der ein Gegenstand der Wissenschaft ist, vom Diskurs der Wissenschaft selbst. Diese Grenzen ziehen heißt letztendlich die Grenze ziehen zwischen denen, deren Geschäft das Denken ist, und den anderen. Diese Grenze ist nie anders als in Form einer Geschichte zu ziehen. Nur die Sprache von Geschichten kann die Grenze ziehen, die Aporie der Abwesenheit eines letzten Grundes der Gründe der Disziplinen aufbrechen.


Ich habe kürzlich das Konzept einer »Poetik der Wissen« vorgeschlagen. Eine Poetik der Wissenist nicht eine einfache Art und Weise zu sagen, daß es in sich für streng haltender Argumentation stets Literatur gibt. Eine solche Darlegung gehörte noch der müßigen Logik der Entmystifizierung an. Die Poetik der Wissen sagt nicht, daß die Disziplinen falsche Wissen sind. Sie sagt, daß sie Disziplinen sind, Weisen des Eingreifens in den endlosen Krieg, der zwischen den Arten und Weisen kundzutun, was ein Körper kann, stattfindet, den endlosen Krieg zwischen den Gründen der Gleichheit und denen der Ungleichheit. Sie sagt nicht, daß sie ungültig sind, weil sie Geschichten erzählen. Sie sagt, daß sie ihre Vorführungen der Gegenstände, ihre Protokolle der Aufbereitung und ihre Argumentationen der gemeinsamen Sprache und dem gemeinsamen Denken entleihen müssen. Eine Poetik der Wissen ist allererst ein Diskurs, der die Kraft der Beschreibungen und der Argumente wieder in die Gleichheit der gemeinsamen Sprache und in die Gleichheit der gemeinsamen Fähigkeit, Gegenstände, Geschichten und Argumente zu erfinden, einschreibt. In diesem Sinn kann man sie auch eine Methode der Gleichheit nennen.

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Jacques Rancière

Jacques Rancière

ist einer der meistdiskutierten politischen Philosophen der Gegenwart. Er lehrte von 1969 bis 2000 an der Universität Paris VIII (Vincennes und Saint Denis) und war lange Herausgeber der Zeitschrift »Révoltes logiques«. In den letzten Jahren beschäftigt er sich vor allem mit Fragen der Ethik und Ästhetik sowie der politischen Philosophie.

Weitere Texte von Jacques Rancière bei DIAPHANES
Tobias Huber (Hg.), Marcus Steinweg (Hg.): INAESTHETIK – NR. 0

Inästhetik denkt die Kunst von der Philosophie und die Philosophie von der Kunst her, ohne dabei das eine zum Objekt des anderen zu machen, ohne eines ans andere zu binden oder dem anderen unterzuordnen in der Überzeugung, dass in der Philosophie wie in der Kunst das Unendliche nur jeweils unterschiedliche endliche Formgebungen erfährt. Inästhetik zeichnet »die aus der unabhängigen Existenz bestimmter Kunstwerke hervorgehenden intraphilosophischen Wirkungen« nach, wobei die Philosophie die Immanenzebene bereitstellt. Inästhetik bringt ein Denken in Anschlag, das Kunst und Philosophie gleichermaßen als Wahrheitsproduktion auffasst und, im Sinne Badious, die »Treue« zu diesen Wahrheiten aufrechterhält. Inästhetik versucht die Ebene einer allgemeinen Ontologie zu fixieren, auf der sich das Verhältnis von Philosophie und Kunst aufspannt. Inästhetik erscheint als Zeitschrift im Halbjahresrhythmus und stellt unter wechselnden Thementiteln internationale Positionen neben explizit jüngere Ansätze. Inästhetik will internationale zeitgenössische Konfigurationen sichtbar machen und operiert daher bewusst mehrsprachig.

Inhalt
  • 3–10

    Editorial

    Tobias Huber, Marcus Steinweg

  • 11–26

  • 11–26

  • 11–26

  • 27–56

    Can the new be thought? . Bruno Bosteels interviews Alain Badiou

    Alain Badiou, Bruno Bosteels

  • 27–56

    Kann man das Neue denken?. Bruno Bosteels im Gespräch mit Alain Badiou

    Alain Badiou, Bruno Bosteels

  • 57–71

    Kunst, Politik, Geschichte. Bemerkungen zu Badiou und Rancière

    Bruno Bosteels

  • 57–71

    Art, Politics, History. Notes on Badiou and Rancière

    Bruno Bosteels

  • 73–80

    Die Odyssee des Realen

    Alexandre Costanzo

  • 73–80

    The Odyssey of the real

    Alexandre Costanzo

  • 73–80

    L’Odyssée du réel

    Alexandre Costanzo

  • 81–102

  • 81–102

  • 81–102

    Thinking between the disciplines. An aesthetics of knowledge

    Jacques Rancière

  • 103–118

    Zur Aktualität ästhetischer Autonomie. Juliane Rebentisch im Gespräch

    Juliane Rebentisch

  • 119–139

    Definition of art

    Marcus Steinweg

  • 119–139

    Definition der Kunst

    Marcus Steinweg

  • 141–148

    Zur Topik des Werkbegriffs in der Moderne

    Sebastian Egenhofer

  • 141–148

    On the topic of the concept of the art work in modernity

    Sebastian Egenhofer

  • 149–157

    Der Schein

    Alexander García Düttmann