Was Valéry das »Problem des Museums« nannte und was seitdem zu Angriffen Anlass gegeben hat, die weit politischer und radikaler intendiert waren (Maurice Blanchot wird so weit gehen, von einer »Museumskrankheit« zu sprechen), ist das Anzeichen und zugleich das Korrelat der selbst komplexen und unglücklichen Beziehungen, die unsere Kultur mit ihrer Geschichte unterhält, ungeachtet, ob sie eine patrimoniale Form haben oder nicht.1 Und das in der Vergangenheit ebenso wie in der Gegenwart. Welches das mediale und touristische Schicksal der Institution heute auch sei, es scheint, dass die Beziehungen zwischen der sogenannten »Museumskunst« und der per Antithese als »lebendig« qualifizierten Kunst nur konflikthaft oder zumindest polemisch sein können. Und zwar derart, dass das Projekt eines Museums für zeitgenössische Kunst die Figur eines Paradoxons, wenn nicht gar eines Oxymorons annimmt, weil es einen Widerspruch zu implizieren scheint: Wenn das Museum die Funktion hat, der Ort, das Instrument oder der Träger eines spezifischen Gedächtnisses zu sein, wie könnte sich dann dieses »Monument« im etymologischen Sinn mit dem Zutagetreten, mit der Manifestation, mit der Schaustellung abfinden, die in seinen Mauern einer Kunst zuteil wird, die sich im Gegenteil durch ihre Aktualität, wenn nicht durch eine Neuheit auszeichnet, die nicht notwendig erinnernswert ist? Könnte nicht – um die Freudsche Hypothese, dass innerhalb desselben Systems zwischen Bewusstwerdung und Erinnerungsspur eine Inkompatibilität besteht (»Das Bewusstsein entsteht an der Stelle der Erinnerungsspur«),2 zu paraphrasieren – im Kontext des Museums ein Widerspruch auftreten zwischen der Möglichkeit für die Kunst, in ihren jüngsten Erscheinungsformen gezeigt, ausgestellt und publiziert zu werden, und der Aussicht, sich unverzüglich in die Geschichte einzuschreiben, indem sie sich in den Schatz einfügt, den zu beherbergen Auftrag der Institution ist und zu dem sie zunächst, bevor sie sich in ihm resorbiert, nur in parasitärem Verhältnis stehen kann? Als ob das Bahnen neuer Wege durch die Kunst eine Bewusstwerdung implizieren würde, die nicht ohne weiteres Hand in Hand ginge mit einer Einschreibung im Gedächtnis. Als ob diese beiden Funktionen – zu sehen geben und in die Erinnerung einschreiben – im Unmittelbaren in der Tat inkompatibel wären und sich erst nachträglich, über die Rückkehr des Wiedererinnerten, so wie das Museum es organisiert und in Szene setzt, wieder vereinigen könnten.
Kann die Geschichte – ganz ungeachtet der Beziehungen, die sie mit dem Gedächtnis unterhält – dabei zu sehen gegeben werden, wie sie sich in der Gegenwart herstellt? Angenommen, der Begriff eines Museums für zeitgenössische Kunst wäre vom semantischen Standpunkt her annehmbar, so würde ein solches Projekt eigentlich darauf hinauslaufen, zwei ursprünglich verschiedene Funktionen unter demselben Dach oder im Rahmen derselben Institution zu kombinieren, wenn nicht zu verwechseln: die des »Salon«, wo das Publikum die Möglichkeit hatte, sich von der Arbeit der Ateliers Kenntnis zu verschaffen; und die des Museums im genannten Sinn eines Gedächtnisorts oder -dispositivs sowie eines Konservatoriums (d.h. einer Ausbildungsstätte, A.d.Ü.). Die Institution der »Salons« ist, zumindest in Frankreich, der der Museen im modernen Sinn des Worts vorhergegangen – was hinreicht, um aus dem allgemein für exemplarisch geltenden Fall Frankreichs eine ausgeprägte Anomalie zu machen. Wie Thomas Crow gezeigt hat, erklärt die ambivalente Haltung der Akademie gegenüber den öffentlichen Ausstellungen, durch die sie ihre Autorität und ihre Privilegien gefährdet glaubte, teilweise, dass der Vorschlag, im Louvre ein Museum zu schaffen, das der Erziehung der Künstler und des Publikums dienen könnte, so lange toter Buchstabe blieb, während Institutionen dieses Typs in ganz Europa lange vor der Französischen Revolution und dem Konventsdekret, das die Schaffung eines »Museums der Republik« befahl, das Licht der Welt erblicken sollten.
Die Akademie hatte gute Gründe, beunruhigt zu sein: Dass in Gestalt des Publikums ein neuer Akteur die Bühne der Kunst betrat, ging mit Transformationen in der Ordnung der Produktion einher, die viel tiefer waren und von denen das Museum selbst bis heute zumindest symbolisch geprägt ist. Die Ursprungsmarkierung der Institution, ihr epochenbedingtes Charakteristikum, zeigt sich darin, dass sie sich meist, um deren Operation nachzuahmen, über den Modus der manufakturartigen Arbeitsteilung regelt. So wie die Manufaktur die Gewerbe vereinigte, sie assoziierte, sie kombinierte, um sie an der Einheit derselben gemeinsamen Aufgabe mitwirken zu lassen, so hat die Präsentation der Werke nach Epochen und Schulen zunächst den Effekt, wenn nicht das unverhohlene Ziel, die Kunst, als deren Tempel und zugleich Depositar sich das Museum versteht, als das kollektive Produkt einer Masse von Arbeitern oder Künstlern erscheinen zu lassen, von denen jeder, um es mit Baudelaire zu sagen, seine »Spezialität«3 hätte, die weder bloß eine Angelegenheit des Genies noch eine der einfachen Einteilung in Gattungen sein kann. Wobei sich im Inneren des Dispositivs unter »Spezialisten« Umgruppierungen vollziehen, die in dieselbe Richtung gehen: Jenseits jener imaginären Beleuchtung, die von den »Leuchttürmen« ausgeht, die die »großen Künstler« angeblich sind, findet die sichtbarste Neuverteilung der Aufgaben im Maßstab der regionalen, provinziellen oder nationalen Unterschiede statt – um von den massiveren Oppositionen zwischen Orient und Okzident, Norden und Süden, die anscheinend nichts von ihrer Aktualität, wenn nicht von ihrer Relevanz verloren haben, erst gar nicht zu sprechen.4 Im Museum nimmt die künstlerische Produktion die Züge eines gigantischen Ateliers an, das sich nicht damit begnügt, den verschiedensten »Spezialitäten« ihren Platz einzuräumen, sondern das im Grenzfall eine Art universale Arbeitsteilung in planetarischem Maßstab implizieren würde.
Eine Operation des Museums in ihrer klassischen Form geht aus von oder spiegelt sich in seiner Anordnung, seiner Szenografie, wenn nicht in seiner Architektur: einer Anordnung, einer Szenografie (von der Architektur nicht zu reden) im streng monumentalen Sinn, die sich in ihrer epistemologischen Rückwirkung an der Tatsache bemisst, dass die entstehende Kunstgeschichte von vornherein ihre methodische und fetischisierte Form in ihr wiedererkennen musste. Das Manufaktur-Museum vertritt das Modell einer Geschichte, deren Herrscher die Institution wäre, verschmilzt diese Geschichte doch rückblickend mit dem Bild, das das Museum in Form eines Parcours durch die Zeit und den Raum von ihr bietet. Dieses Modell bleibt jedoch nicht ohne Rückwirkungen auf der Ebene der Rezeption und der Wahrnehmung der einzelnen Werke durch das Publikum. Bald scheint es, als ob die Werke nur als Teile oder Elemente eines umfassenden Dispositivs, von dem sie ihren Sinn bezögen, betrachtet werden könnten; bald scheinen sie einer unüberschreitbaren Isolierung ausgeliefert: Die »Einsamkeit des Werks« ist, noch einmal, ein wesentlich moderner Begriff und paradox an die Vermehrung der Institutionen gebunden, die, in Form von Museen und öffentlichen Bibliotheken, die verschiedensten Produktionen beherbergen sollen. Denn der Eklektizismus, der, selbst wenn er relativ ist, die Konstitution der Sammlungen bestimmt, lässt die Anmaßung des modernen Werks auf eine ungeteilte Regentschaft und Singularität durch Kontrast nur umso stärker hervortreten.
Als öffentliche Institution arbeitet das Museum daran, durch die Mannigfaltigkeit und die Verschiedenheit der von ihm beherbergten Werke eine gewisse Idee von Kunst durchzusetzen, während es sich zugleich als deren letztendliches Schicksal präsentiert: Nur die Produktionen können Eingang finden, die sich, und sei es durch Modulation, demselben Projekt, wenn nicht gar demselben Ideal anpassen, so dass die Legitimierungsfunktion, die die Institution ihrem Wesen nach innehat, durch eine zumindest indirekte produktive Funktion verdoppelt wird: Die Tatsache, dass dreißig Jahre zuvor das erste Museum für moderne Kunst in New York geschaffen wurde, gehört durchaus zu Gründen, die man für das Entstehen einer großen amerikanischen Malerei in den fünfziger Jahren dieses Jahrhunderts anführen kann; wobei sich das Argument hier mit dem der Pamphletisten des 18. Jahrhunderts trifft, die von der Öffnung der königlichen Sammlungen für das Publikum eine Hebung des Niveaus der im Salon ausgestellten Werke erwarteten.5
Das Museum hat nicht nur eine bewahrende Funktion. Es sondert Geschichte ab. Vergangene Geschichte, die es in der wesentlich taxonomischen Form in Szene setzt, welche die der Disziplin namens »Kunstgeschichte« ist. Aber auch gegenwärtige, ja sogar künftige Geschichte, an der sie mitwirkt auf dem Umweg des Einflusses, den, wie es heißt, die öffentlichen Sammlungen und Ankäufe auf die gegenwärtige Kunstproduktion zum Besten und zum Schlimmsten ausüben. Das Museum arbeitet daran, zwischen der Geschichte, die man schreibt, und der Geschichte, die dabei ist, zu geschehen, jeden Unterschied, wenn nicht jeden Abstand zu tilgen. Wie eine modernistische Kritik – die (der vorliegende Text macht keine Ausnahme!) nur den kleinen Fehler hat, jedesmal die Kunstgeschichte völlig umschreiben zu wollen, wenn sie ein neues Werk oder einen neuen Begriff, den sie als deren Endpunkt präsentiert, in sie einführen muss – entzieht sich die Institution den Aporien der Gegenwart nur, indem sie diese auf die Dimensionen einer Disziplin reduziert, die eine direkte Kopie des Museumsdispositivs ist. Auch darin ist das Beispiel des Museum of Modern Art in New York erhellend. So wie auch die Ersetzung der offenen, netzartigen Szenografie, die ihr Schöpfer Alfred Barr ursprünglich konzipiert hatte, durch das strikt narrative, lineare und kontinuierliche Schema, zu dem ihre Nachfolger zurückgekehrt sind, erhellend ist.
Dass ein Museum für moderne Kunst im (manufakturartigen) Modus des klassischen Museums, in dem jeder Künstler und jede Bewegung ihren besonderen Platz (ihre Spezialität) haben, funktionieren kann, sollte nicht vergessen machen, dass das Modell der Arbeitsteilung seine eigene Dynamik hat. Zu den unstrittigsten Errungenschaften von Marx im Hinblick auf historische Analyse gehört es, gezeigt zu haben, wie man vom Regime der Manufaktur in einer notwendigen, in die Strukturen der Produktion eingeschriebenen Evolution zu dem der Fabrik übergegangen ist, das der beginnenden Herrschaft der Maschine entspricht. Die Manufaktur hat mindestens in einer ersten Zeit die traditionellen Gewerbe nicht eliminiert, obwohl sie ihren Aktionsradius einschränkte und ihre Repräsentanten zugleich in einfache Mitglieder eines umfassenden Mechanismus verwandelte: So ging es bei der Manufaktur von Kutschen, die Marx im ersten Band des Kapital beschreibt, mit den Stellmachern, Sattlern, Schneidern, Gürtlern, Drechslern, Posamentierern, Glasern, Malern, Lackierern, Vergoldern, etc.6 Dies verhielt sich aber deshalb so, weil die Handarbeit noch die mechanische Arbeit überwog: In der Manufakturperiode bleibt das Gewerbe die Grundlage der Industrie.7 Umgekehrt musste die Einführung der Maschine mehr und mehr zur Zerstörung eben dieser Gewerbe und der mit ihnen verbundenen Gedächtnisformen führen, was im Register der Kunst nicht ohne Echo bleiben sollte: Man lese nur das Tagebuch von Delacroix, in dem ständig das Thema des Verlusts der Handfertigkeiten und des mangelnden oder gestörten Gedächtnisses wiederkehrt, das bei den Künstlern sein Gegenstück war.8 Eine mechanische Industrie wird diesen Prozess zum Abschluss bringen: So wie innerhalb der Manufaktur der aus der Kombination einer großen Zahl von Teilarbeitern bestehende Kollektivarbeiter die unabhängigen Arbeiter ersetzt hatte, so wird die Maschine den kollektiven Arbeiter als Subjekt der Produktion ersetzen und die mit ihr verbundenen Arbeiter auf den Status von bewussten, aber der zentralen Bewegkraft untergeordneten Organen reduzieren, gleich ihren mechanischen und als solchen unbewussten Organen.9 »In der Manufaktur ist die Gliederung des gesellschaftlichen Arbeitsprozesses rein subjektiv, Kombination von Teilarbeitern; im Maschinensystem besitzt die große Industrie einen ganz objektiven Produktionsorganismus, den der Arbeiter als fertige materielle Produktionsbedingung vorfindet.«10
Die Attacken, die sich seit langem gegen das Museum richten, sind in vielerlei Hinsicht ein Echo derer, denen seinerzeit die Maschine ausgesetzt war. In Maschinenform wird das Arbeitsmittel der unmittelbare Konkurrent des Arbeiters. Heißt das, dass das Museum, geboren aus dem Traum einer kollektiven Aneignung der Produkte der Kultur, selbst der Ort, wenn nicht das Instrument einer Enteignung der Subjekte auf der Ebene der Produktion wie der Rezeption geworden ist, weil die Kunst nunmehr einen Teil ihrer erzeugenden oder bewegenden Kraft von der Maschinerie der Institution selbst bezieht? Angenommen, das Museum würde, wie es das von Marx übernommene technologische Modell will, nunmehr in der Weise einer Maschine oder einer Fabrik (fabrique) funktionieren (ich habe nicht gesagt: usine, d.h. als ein großindustrieller Betrieb), an welchen Zügen wäre dann eine solche Transformation auf der Ebene der künstlerischen Schöpfung zu erkennen? In erster Linie daran, dass das maschinenartige Museum lediglich die wesentlich retrospektive Operation des manufakturartigen Museums wiederholen würde, war dieses doch einer prestigeträchtigen Vergangenheit zugekehrt, die die Institution mit einer Form zu versehen, ebenso wie in ihren Spuren zu bewahren, beauftragt war. Das maschinenartige Museum stellt nicht nur den Anspruch, einzig aus Freude an der Entdeckung, und ohne unbedingt bei jeder Gelegenheit einen Wechsel auf die Zukunft auszustellen, die verschiedenartigsten und riskantesten Produktionen der Gegenwartskunst zu sammeln und dem Publikum zu präsentieren. Es will in der Produktion selbst eine Rolle spielen.11
Zweifellos ist das Museum nicht (oder noch nicht) in der Lage, »Werke« im traditionellen Sinn des Worts herzustellen – z.B. »Gemälde«. Zumindest aber ist es seine Sache, ihre Präsentation unter Bedingungen und in einer Form zu programmieren, die das Äquivalent des Programms wäre, dem die Kunstwerke, wie man meint, unterworfen waren, ehe der »Künstler« im modernen Verständnis des Worts auftritt. Die Wichtigkeit, die der Arbeit der zeitgenössischen Kunst praktisch ebenso wie theoretisch den Fragen der Hängung, der Rahmung, der Sichtbarkeit und allgemein den Problemen der Ausstellungsfunktion und des Ausstellungswerts eingeräumt wird, gehört einem analogen Prozess an, wenn sie nicht davon herrührt. So wie auch die Unternehmungen, die darauf abzielen, den physischen und institutionellen Raum des Museums mit einzubeziehen, ihm noch angehören, wenn sie nicht von ihm herrühren – Unternehmungen, für die das Museum umso offener ist, als sie letztlich bloß in Bezug auf das Museum Sinn haben. Aber das wäre noch nichts, wenn die Institution nicht immer ausgedehntere Funktionen als produktive Instanz übernähme, indem sie sich, wie sie es heute tut, für die neuen Formen der Bilderzeugung ebenso wie für Aktivitäten öffnet, die nicht notwendig zur Produktion von Werken im traditionellen Sinn führen: Sei es, dass das Museum den Künstlern die mehr oder weniger raffinierten Instrumente und Räume liefert, die sie zur Ausübung ihrer Kunst benötigen; sei es, dass sein Siegel Unternehmungen gewährt ohne eine andere Garantie als eben die Tatsache, dass sie in seinen Mauern stattfinden.
Die Transformationen, die die Institution erlebt hat, haben sie jedoch nicht ihrer traditionellen Legitimierungsfunktion entkleidet. Im Gegenteil sollte diese seine Funktion sich derart steigern, dass die Aufnahme ins Museum nunmehr als das ultimative Kriterium des Kunstwerks erscheinen konnte, ganz ungeachtet seines Aussehens, seiner Form, seiner Substanz, ja seiner Natur selbst. Ich hätte keine Bedenken, hier an die Interventionen von Marcel Duchamp zu erinnern, wenn sie nicht der Anlass von mehr oder weniger beabsichtigten und interessierten Sinnwidrigkeiten aller Art gewesen wären. Ein Urinal ins Museum einzuführen, war nicht nur eine unverhüllte Anspielung auf die skatologischen Konnotationen des Worts »Cabinet«, das, wie die Encyclopédie von d’Alembert und Diderot unterstreicht, unterschiedslos einen Abort bezeichnete und den Raum, in dem die Sammler ihre Schätze aufbewahren. Was man von der Operation Duchamps zurückbehält, ist, mehr noch als die Verspottung der Autorität, die sich das Museum anmaßt, die Tatsache, dass sie den Beweis liefert für die Macht der Umlenkung, ja der einfachen Verschiebung, die der Kunst eigen ist und die die Institution so sehr vervielfacht und erweitert hat, dass die Kunst inzwischen imstande ist, ausgehend von bereits bearbeiteten Materialien, Industrieabfällen oder Schrottobjekten zu arbeiten. Eine Arbeit, die, wie Walter Benjamin bemerkt hat, sich mit der der Psychoanalyse trifft, die zumeist Züge auswertet, die bisher niemand beachtet hatte – dem, was Freud den »Abhub« der Erscheinungswelt nannte (refuse, engl. i. O.).12
Ist es ein Lapsus, wenn Duchamp das Urinal Fontaine genannt hat? Aber wer zahlt für diesen (offenkundig kalkulierten) Lapsus? Das Museum? Eine »Kunst«? Oder der, den man immer noch den »Künstler« nennt? Wenn es stimmt, was Marcel Duchamp James Johnson Sweeney anvertraute, nämlich dass er mit dem Ready-made versuchen wollte, die Konsequenzen aus dem zu ziehen, was er die »Enthumanisierung der Kunst« nannte,13 nämlich das mit dem Gebrauch rein mechanischer Techniken verbundene Verschwinden »jeder menschlichen Intervention in Malerei und Zeichnung«, wie sollte man dann nicht sehen, dass diese »fertig gemachten« Werke selbst das Nebenprodukt eines Produktionssystems waren, in dem der Mensch nicht mehr die Stellung eines »Subjekts« hat? Was uns auf Marx zurückverweist und auf den Entfremdungsbegriff, der der Transformation der menschlichen Arbeit in Ware entspricht. Auch bürgte Duchamp in dieser Sache nur mit seiner Signatur. Diejenigen, die man heute als seine Erben präsentiert, haben nicht immer diese Scham und diese Vorsicht. Sie profitieren dafür erst recht von der Lehre, die sie einer aufmerksamen Lektüre Walter Benjamins hätten entnehmen können. Denn inzwischen verhält es sich in vielerlei Hinsicht mit dem »Künstler« wie mit dem Schauspieler im Kino: In dem Maß, wie es dazu tendiert, die Herrschaft des einen wie des anderen über ihre Rolle in der Produktion zu beschränken, konstruiert ihnen das System außerhalb des Studios und des Ateliers, aber möglicherweise im Rahmen des Museums, künstlich eine Rolle, eine »Persönlichkeit«, ja eine imaginäre Biografie: das Histrionentum, das die Kulturindustrie fördert, tritt an die Stelle des Werks (siehe Beuys oder Warhol), so wie, um noch einmal Benjamin zu zitieren, »der vom Filmkapital geförderte Starkultus […] jenen Zauber der Persönlichkeit [konserviert], der schon längst nur noch im fauligen Zauber ihres Warencharakters besteht«.14
Die Idee, dass das Museum nicht nur der Ort der Ausübung der künstlerischen Produktion par excellence, sondern auch deren eigentliches Subjekt geworden wäre (eine Idee, die, nebenbei gesagt, hinreichen würde, den inneren Widerspruch, den der Begriff eines »Museums für zeitgenössische Kunst« zu implizieren scheint, aufzulösen), verlangt indessen, selbst in eine Perspektive eingefügt zu werden. Es ist dieselbe Zweideutigkeit, die sich mit dem Begriff einer Programmierung der Arbeit der zeitgenössischen Kunst und ihrer scheinbar subversivsten Verfahren im Museum verbindet, die bereits im Kontext des »Auftrags« mit dem Begriff des Programms einherging. Dass das Museum Performances und »Installationen« jeder Art aufnimmt, dass die Operation der Kunst sich auf ihre eigene Inszenierung reduzieren kann, dass sie sich im wesentlichen auf die eine oder andere Form des Auf-die-Probe-Stellens der Institution und zugleich auf die Erforschung und das Ausfindigmachen der von ihr implizierten, ebenso materiellen wie ideologischen Zwänge beschränkt, dass diese Operation im Grenzfall darauf aus ist, die Hintergründe, wenn nicht die Kehrseite der Institution aufzudecken, die Tatsache, dass diese Interventionen das Museum als Rahmen haben oder haben können – das alles zeigt hinreichend, dass das Museum sich heute – zumindest in seinem technischen Dispositiv, das permanenten Transformationen, wenn nicht gar Revolutionen unterworfen ist – durch eine Verfügbarkeit auszeichnet, die umso bemerkenswerter ist, als das Publikum, wie schon in der Epoche der »Salons«, als ihr Garant gilt.
In technischer Hinsicht ist das Museum verfügbar. In institutioneller Hinsicht ist diese scheinbare Verfügbarkeit jedoch ein Trugbild. So wie es heute funktioniert und sich darstellt, ist das Museum das Produkt einer Entwicklung, die organisch sein will, aber nichts Natürliches hat, weil sie einem Projekt entspricht, das sich als »Kultur« versteht, aber letztlich politisch ist. Die inneren Kämpfe, deren Theater das Museum ist und in denen es – im Sinn von Krediten ebenso wie von Ausstellungsflächen – um eine quantitativ messbare Macht geht, können nicht verdecken, dass die Institution als solche an der Agenda einer sozialen Formation oder, wie Guy Debord schrieb, am Gebrauch der Zeit teilhat und ihn ausdrückt.15 Dieser Gebrauch der Zeit verrät sich in einer strikten ideologischen Kontrolle und der unverhüllten Repression aller Aktivitäten, die in irgendeiner Eigenschaft eine Bedrohung für die etablierte Ordnung und ihre Werte darstellen. Angefangen mit denen, die, weil sie an die Form und den Anspruch des Werks als solchen gebunden sind, Bestimmungen gehorchen, die sich letztlich als unkontrollierbar erweisen können. In dieser Hinsicht genügt das In-Szene- oder In-Spektakel-Setzen des Erbes der Jahrhunderte und seine Reduzierung auf einen Vorrat von mehr oder weniger fetischisierten Bildern oder Reliquien, die die klarste Funktion des Museums ausmacht, um aus demselben eines der wirkungsvollsten, aber auch perversesten Instrumente zu machen, über die die von Debord so genannte Gesellschaft des »Spektakels« zu ihren Zwecken verfügt. Daher die hier wie sonst erforderliche Unterscheidung zwischen dem, was theoretisch möglich und dem, was in der Praxis autorisiert ist; zwischen dem, womit sich die Macht, so wie sie im Museum ausgeübt wird, nicht abfinden will und dem, was zu irgendeinem Zeitpunkt in irgendeinem Winkel der Institution zugelassen werden kann. Das Wesentliche ist, dass jede auch nur minimal abweichende Aktivität sofort marginalisiert wird, ohne dass erlaubt würde, ihre Wirkungen zu entfalten, denn das Publikum selbst hat – wenn vorhanden – zur Kunst nur unter der Rubrik »Freizeit« Zugang.16
Der historische Prozess, der vom manufakturartigen Museum zum maschinenartigen Museum geführt hat, gehorchte nicht einmal in seinen Anfängen ausschließlich Bestimmungen technischer oder technologischer Art. Weit mehr als der angebliche Bruch zwischen der modernen Kunst und den Museen ist es die Scheidung, die sich zwischen der »unabhängigen« Kunst und der der offiziellen Salons vollzogen hat, die erlaubt, von den komplexen, widersprüchlichen und zum Großteil polemischen Beziehungen Rechenschaft zu geben, die das Museum mit der, ich wiederhole, zu Recht als »unabhängig« qualifizierten Kunst unterhält. Weit mehr als daran, dass es nunmehr versteht, in seinen Mauern einem Urinal, einem Fahrrad-rad oder einem Flaschentrockner Obdach zu bieten, sobald sie die Signatur Marcel Duchamps tragen, bemisst sich die Kraft des Museums, seine – wie ich sagen würde – aktuelle Macht an dem Beweis, den jüngst das Musée d’Orsay erbracht hat: dem Beweis, dass das Museum zumindest in Frankreich (aus historischen wie aus institutionellen Gründen) die Fähigkeit besitzt, noch einmal in bewusst von der Ära der Manufaktur inspirierten Formen (»eine von Ateliers gesäumte Straße« nannte man das von Gae Aulenti signierte Projekt) einen Streitfall zu inszenieren, den man für erledigt hätte halten können: denjenigen, in dem seinerzeit die sich als »unabhängig« verstehende Kunst und die offizielle – die, wie ihr Name sagt, diesen Anspruch keineswegs erhob – sich gegenüberstanden. Nicht die geringste von den Paradoxien der gegenwärtigen Situation – eine Paradoxie, die sich wie so oft als produktiv erweisen kann – ist es, dass die technische Verfügbarkeit, die das heutige Museum charakterisiert, die Gelegenheit gibt – was sage ich: erzwingt –, die aktuellen und oft hinterhältigen Formen Revue passieren zu lassen, die die Abhängigkeit im Bereich der Kunst annimmt. Und das nicht nur retrospektiv, wozu das Museum billig die Gelegenheit gibt, sondern in ihren aktuellsten, wenn nicht experimentellsten Formen. Politisch gesprochen ist die Zeit gekommen, die zu einem Großteil scheinheilige und konfuse Kritik an der Institution durch die Devise eines spielerischen Gebrauchs ihrer Maschine zu ersetzen, der wirklich der realen und beständigsten Praxis der modernen und zeitgenössischen Kunst entspräche. Ihre Sache wäre es, auf ihren Wegen, mit ihren Mitteln und eventuell durch ihre bloße Präsenz zu beweisen, dass sie fähig ist, diese Maschine für ihre Zwecke einzusetzen, ohne sich länger von ihr bevormunden zu lassen. Dass die technische Verfügbarkeit, die theoretisch dem Museum zukommt, letztlich nur ein Lockmittel ist, darf nicht dazu führen, dass man die Verwerfungen, die Zwischenräume, die Verschanzungen jeder Art verkennt, von denen, so eng sie sein mögen, eine bestimmte punktuelle oder diagonale Intervention profitieren kann.17
1 Valéry, P.: »Le problème des musées« (1925), in: Pièces sur l’art, Œuvres, Paris 1960, t. II, S. 1290–1293. Blanchot, M.: Museumskrankheit, Köln 2007.
2 Freud, S.: »Jenseits des Lustprinzips« (1920), in: Gesammelte Werke, Bd. 13, S. 25.
3 Baudelaire, C.: »L’Œuvre et la vie d’Eugène Delacroix«, in: Œuvres complètes, Paris 1966, S. 1115.
4 So glaubt Svetlana Alpers die narrative Kunst Italiens der beschreibenden Kunst des Nordens gegenüberstellen zu können, in: Kunst als Beschreibung - Holländische Malerei des 17. Jahrhunderts, Köln 1985.
5 Angefangen mit dem ersten Vertreter der Gattung: La Font de Saint-Yenne: Réflexions sur quelques causes de l’état présent de la peinture en France, La Haye 1747.
6 Marx, K.: Das Kapital, Bd. I, Kap. 12, »Teilung der Arbeit und Manufaktur«.
7 Ebd., Kap. 13, »Maschinerie und große Industrie«.
8 Hierzu mein Vorwort zur Neuausgabe des Journal von Delacroix, Paris 1981, 1996.
9 Marx, Das Kapital, a.a.O.
10 Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW, Bd. 23, Berlin 1962, S. 407.
11 Unter der Ägide des Guggenheim Museums sieht das Projekt des MassMoCA (Massachusetts Museum of Contemporary Art) vor, ein Industriegebiet von 250000 qm in einen Komplex zu verwandeln, der nicht nur gigantische Ausstellungsräume enthalten soll, sondern auch ein Hotel und Ladengeschäfte. Eine brillante Analyse der Logik dieses Projekts sowie der Produktion eines fragmentierten, entwirklichten und technologisierten Subjekts, auf das derartige Unternehmungen ebenso wie die für sie bestimmten Kunstformen abzielen, liefert Krauss, R.: »The Cultural Logic of the Late Capitalist Museum«, in: October, Nr. 54, Herbst 1990, S. 3–17.
12 Freud, S.: »Der Moses des Michelangelo«, in: Gesammelte Werke, Bd. 10, S. 185.
13 »Entretien Marcel Duchamp – James Johnson Sweeney«, in: Duchamp du signe, Paris 1975, S. 181.
14 Benjamin, W.: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in: Gesammelte Schriften I, 2, Frankfurt 1991, S. 492.
15 Debord, G.: La Société du spectacle, nouv. éd. Paris 1992, S. 7.
16 In der Epoche des Fünfjahresplans, aber wohlgemerkt vor seinem Retour de l’URSS, hatte André Gide keine Scheu zu schreiben: »Nicht nur die Arbeit des Menschen muss reglementiert werden, sondern auch und vor allem seine Freizeit« (Journal, 27. 1. 1932).
17 Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch L’amour m’expose: le projet Moves, das 2000 bei Yves Gevaert Éditeur in Brüssel erschienen ist. Das Buch dokumentiert u.a. die Ausstellung Le projet Moves, die der Autor 1998 für das Museum Boijmans Beuningen in Rotterdam konzipiert hat.
war Philosoph und Kunsthistoriker und lehrte über dreißig Jahre an der École des Hautes Études en Sciences Sociales, Paris, wo er 1967 den Cercle d’histoire/théorie de l’art, heute CEHTA (Centre d’histoire et théorie des arts) gründete. Mit der von ihm begründeten »iconologie analytique« und seinen zahlreichen Werken über Malerei, Architektur, Fotografie, Kino und das Theater hat er die Kunstgeschichte und Ästhetik in Europa und den USA nachhaltig geprägt.
Carolin Meister (Hg.), Dorothea von Hantelmann (Hg.)
Die Ausstellung
Politik eines Rituals
Broschur, 192 Seiten
Vergriffen
PDF, 192 Seiten
Die Ausstellung ist in den letzten Jahrzehnten zu einem der erfolgreichsten kulturellen Ereignisse avanciert. So zumindest scheint es angesichts der Vielzahl neuer Museumsbauten, der globalen Verbreitung sogenannter Biennalen und dem zunehmenden Maß an medialer und diskursiver Aufmerksamkeit, das der bildenden Kunst zuteil wird. Worin aber gründet dieser Erfolg? Welche gesellschaftliche wie kulturelle Bedeutung erfüllt die Ausstellung – historisch und aktuell? Worin liegen ihre ästhetischen und ihre nicht-ästhetischen, etwa rituellen oder gouvernementalen Züge? Eine Sammlung von Essays befasst sich aus philosophischer, soziologischer, künstlerischer und kunsthistorischer Perspektive mit diesem Thema. Die Bedeutsamkeit des Formats der Ausstellung, so die Ausgangsthese, liegt darin, eine Art Ritual zu schaffen. Und zwar ein Ritual, in dem ein spezifisches Set an Werten eingeübt und zur Aufführung gebracht wird: die Instantiierung eines linearen bzw. evolutionären Entwicklungsmodells, die Valorisierung des Individuums, die herausgehobene Bedeutung materieller Objekte und ihr Zirkulieren auf dem Markt. Die Ausstellung erscheint so gesehen als einer der zentralen Orte, an dem diese für westliche demokratische Marktwirtschaften grundlegenden Werte und Parameter zusammengebracht und in ihrem jeweiligen Verhältnis kultiviert werden.