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»Körper in Ausdehnung, zum Bersten gespannt«

Beginnen wir damit, einen langen Abschnitt aus dem Brief zu l­esen, den Descartes am 28. Juni 1643 an Elisabeth schreibt und der wahrscheinlich den wichtigsten Text zum Thema der Erkenntnis der Einheit von Körper und Seele darstellt:


Die metaphysischen Gedanken, die das reine Begriffsvermögen üben, dienen dazu, uns den Begriff der Seele vertraut zu machen; das Studium der Mathematik, das hauptsächlich die Vorstellungskraft in der Betrachtung der Gestalten und Bewegungen übt, gewöhnt uns daran, sehr deutliche Begriffe vom Körper zu bilden; und indem man schließlich nur das Leben und die alltäglichen Gespräche benutzt und sich des Nachdenkens und des Studiums von Dingen enthält, die die Vorstellungskraft üben, lernt man die Vereinigung von Seele und Körper begreifen.


Ich befürchte fast, daß Eure Hoheit denkt, ich spräche hier nicht ernsthaft; das würde aber der Ehrerbietung widersprechen, die ich ihr schulde und die ich ihr zu erweisen niemals verfehlen werde. Und ich kann wahrhaftig sagen, daß die Hauptregel, die ich immer in meinen Studien beobachtet habe und der ich mich, wie ich glaube, am meisten bediente, um irgendeine Kenntnis zu erwerben, die gewesen ist, immer nur sehr wenige Stunden täglich auf die Gedanken zu verwenden, die die Vorstellungskraft beschäftigen, und sehr wenige Stunden jährlich auf die, die das reine Begriffsvermögen beschäftigen, und daß ich meine gesamte übrige Zeit der Erholung der Sinne und der Ruhe des Geistes widmete; ich rechne zu den Übungen der Vorstellungskraft sogar alle ernsthaften Gespräche und alles, wofür man Aufmerksamkeit haben muß. Das hat mich veranlaßt, mich aufs Land zurückzuziehen; denn obgleich ich in der geschäftigsten Stadt der Welt ebenso viel Stunden für mich haben könnte, wie ich jetzt auf das Studium verwende, so könnte ich sie dort indessen nicht so nützlich verwenden, da mein Geist durch die Aufmerksamkeit ermüdet sein würde, die die Plackerei des Lebens erfordert. Ich nehme mir die Freiheit, dies Eurer Hoheit hier zu schreiben, um ihr zu bezeigen, daß ich wirklich bewundere, wie sie unter den Geschäften und Sorgen, die den Personen von zugleich hervorragendem Geist und hoher Geburt niemals fehlen, den Betrachtungen hat nachgehen können, die erforderlich sind, um den zwischen Seele und Körper bestehenden Unter­schied richtig zu erkennen.


Ich habe dafür gehalten, daß es eher diese Betrachtungen als die weniger Aufmerksamkeit erfordernden Gedanken waren, die sie in dem Begriff, den wir von ihrer Vereinigung besitzen, haben Dunkelheit finden lassen, da nach meiner Meinung der menschliche Geist nicht fähig ist, sehr deutlich und zu gleicher Zeit den Unterschied zwischen Seele und Körper und ihre Vereinigung zu begreifen, weil man sie dafür zugleich als ein einziges Ding und als zwei begreifen muß, was sich widerspricht. Und diesbezüglich habe ich mich (in der Annahme, daß Eure Hoheit die den Unterschied zwischen Seele und Körper beweisenden Gründe in ihrem Geiste noch sehr gegenwärtig hatte, und da ich sie nicht bitten wollte, sich ihrer zu entledigen, um sich den Begriff der Vereinigung vorzustellen, den jeder stets in sich selbst ohne zu philosophieren empfindet, daß er nämlich eine einzige Person ist, die zugleich einen Körper und Gedanken hat, und deren Natur derart beschaffen ist, daß der Gedanke den Körper bewegen und die diesem zustoßenden Begebenheiten fühlen kann) – deswegen also habe ich mich früher des Vergleichs mit der Schwerkraft und den anderen Qualitäten bedient, die wir uns gemeinhin als mit irgendwelchen Körpern verbunden vorstellen, so wie der Gedanke mit unserem Körper verbunden ist; und ich habe mich nicht darum bekümmert, daß dieser Vergleich daran hinkte, daß diese Qualitäten keine wirklichen sind, wie man sie sich vorstellt, weil ich glaubte, daß Eure 
Hoheit schon ganz davon überzeugt war, daß die Seele eine vom Körper unter­schiedene Substanz ist. 


Da Eure Hoheit aber bemerkt, daß es leichter ist, der Seele Materie und Ausdehnung zuzuschreiben, als ihr die Fähigkeit zu geben, einen Körper zu bewegen und von ihm bewegt zu werden, ohne Materie zu haben, so bitte ich sie, diese Materie und Ausdehnung unbefangen der Seele zuschreiben zu wollen; denn das heißt nichts anderes, als sie mit dem Körper vereinigt zu begreifen. Und nachdem sie dieses richtig begriffen und in sich selbst empfunden hat, wird ihr die Erwägung leicht fallen, daß die Materie, die sie diesem Gedanken zugeschrieben hat, nicht der Gedanke selbst ist; und daß die Ausdehnung dieser Materie von anderer Natur als die Ausdehnung dieses Gedankens ist, indem die erstere auf einen bestimmten Ort angewiesen ist, von dem sie jede Ausdehnung eines Körpers ausschließt, was die zweite nicht tut. Und so wird Eure Hoheit leicht auf die Kenntnis des Unterschieds von Seele und Körper zurückkommen, obschon sie ihre Vereinigung begriffen hat.


Wie ich schließlich glaube, daß es sehr notwendig ist, einmal in seinem Leben die Grundsätze der Metaphysik richtig verstanden zu haben, weil sie uns die Erkenntnis Gottes und unserer Seele verschaffen, so glaube ich auch, daß es sehr schädlich sein würde, sein Begriffsvermögen oft mit ihrer Betrachtung zu beschäftigen, weil es sonst nicht so gut den Geschäften der Vorstellungskraft und der Sinne obliegen könnte; sondern daß es das Beste ist, sich damit zu begnügen, die einmal gezogenen Schlüsse in seinem Gedächtnis und in seinem Glauben zu bewahren und dann die übrige verfügbare Zeit für das Studium und die Gedanken zu verwenden, bei denen das Begriffsvermögen mit der Vorstellungskraft und den Sinnen zusammen wirkt. 


* * *






Die Einheit von Körper und Seele begreift man also durch die Aktivität des alltäglichen Lebens und nicht durch die isolierten Vermögen des Denkens oder der Vorstellungskraft. Man begreift sie, »ohne zu philosophieren«, und jeder kann sie deshalb begreifen. Für diese Einheit gilt folglich dasselbe wie für die Evidenz des »ego sum«, die ebenfalls für den Geist eines jeden zugänglich sein muss. Die Einheit ist der Gegenstand einer Evidenz, die analog zu den Evidenzen jeder der Substanzen ist, die sie vereint. Die Modalität dieser Evidenz unterscheidet sich darin, dass man sie »empfindet«, anstatt sie zu denken oder sich vorzustellen. Es gibt also nicht nur eine Einheit, sondern sie hat ihre eigene Weise der Evidenz und der Gewissheit, ihre eigene Weise der Distinktion, welche die Distinktion des Indistinkten ist. Jedoch bleibt die Struktur der Evidenz identisch: Das Erkannte und das Erkennende mischen sich darin oder setzen sich darin gemäß der Beziehung des Selben zum Selben voneinander ab. Das Denken denkt sich denkend, die Vorstellungskraft malt sich die ausgedehnten Gestalten aus, und die Einheit wird in der Unaufmerksamkeit der Ausübung, in der man sich handeln und erleiden spürt, ohne daran zu denken, empfunden. Mehr noch sollen die Gedanken der Metaphysik und die Vorstellungen der Mathematik, sobald sie einmal erlangt und in der Erinnerung gespeichert sind, nur den Weg öffnen zu einem Studium, in dem die drei Register der Erkenntnis zusammen angewendet werden und so zu einem Wissen beitragen können, das selbst ein aktives Wissen des alltäglichen Lebens und der Beherrschung und der Besitzergreifung der Natur ist. Die Evidenz der Einheit ist der Moment, da der Geist aufhört, sich auf sich selbst zurückzuwenden, ausgestattet wie er ist mit gewissen Begründungen der Wahrheit, und sich dem Handeln zuwenden kann. Die Wahrheit ist hier kein Zweck, sondern ein Mittel für diese noch vollere und stets in Bewegung befindliche Wahrheit, welche der Gebrauch des Lebens und der Welt ist. 


Dementsprechend zeigt sich die Evidenz der Einheit gewisser­maßen in zwei Gestalten oder in zwei Momenten – was sich mit der zugleich einen und doppelten Natur ihres Inhalts deckt. Denn unter einem ihrer Aspekte betrachtet ist diese Evidenz von Dunkelheit, Ununterscheidbarkeit und der inneren Widersprüchlichkeit einer antinomischen Konzeption geprägt, aber unter einem anderen Gesichtspunkt betrachtet ist sie sehr gewiss und sehr klar, insofern sie das ist, was man »in sich selbst empfindet«, wie Descartes innerhalb weniger Zeilen zweimal sagt. Das, was man in sich empfindet, ist eben man selbst mit sich selbst vereint wie der Körper mit der Seele, weil diese Einheit eigentlich der einzige Ort ist, wo sich »eine einzige Person« zeigt, »die zugleich [ensemble] einen Körper und ein Denken hat«, sodass dieses Ensemble erlaubt, dass der Körper sich im Denken spüren lässt und das Denken im Körper zum Motor wird. 


Was ist das also für ein klar-dunkles, passiv-aktives Ensemble, welches das Ensemble eines Selbst ganz für sich selbst ist, in sich und für sich gegenwärtig, und das Ensemble eines anderen und gleichzeitig selben Selbst, das ausgedehnt außerhalb seiner selbst die Welt spürt und auch sich dort spürt – mit dieser Evidenz, deren Zusicherung proportional zur Unaufmerksamkeit sich selbst gegenüber ist? 


Wenn die Einheit begriffen wird, was ist das folglich, was da in unbegreifbarer Weise begriffen wird? Ist es ein Objekt oder ein Subjekt der Erkenntnis? Doch zunächst, wer erkennt hier? Ganz sicher nicht das Denken, das nur sich selbst oder Objekte erkennt. Wäre es der Körper? Gewiss nicht, weil der Körper nicht erkennt: Er spürt nur. Spüren ist dennoch eine Weise des Denkens, insofern sich dabei zumindest ein ego auf sich selbst bezieht, genauso wie beim Begreifen, bei der Vorstellungskraft oder beim Willen. Der Körper erkennt sich, insofern er Seele ist, oder insofern er innig mit ihr verbunden ist. Aber die Seele erkennt sich als ausgedehnte, nicht durch den Körper hindurch, sondern gemäß der Ausdehnung des Körpers. Man muss der Seele folglich eine Ausdehnung zugestehen, die sich mit der ganzen Ausdehnung des Körpers mischt, ohne mit dieser die Undurchdringlichkeit und den Ausschluss anderer ausgedehnter Orte zu teilen. Die Seele dehnt sich mit der Ausdehnung aus, nicht wie ein Inhalt in einem Behälter (nicht wie ein Schiffer in einem Schiff), sondern als die Ausdehnung des Unausgedehnten selbst, wodurch das Ausgedehnte (oder der Körper) in seiner Vereinigung mit dem Unausgedehnten erfahren wird. 


Ein Wissen ist dies gerade nicht: Es ist eine dunkle Evidenz, deren Dunkelheit die Gewissheit ausmacht. Es geht hier nicht darum, einen Leib oder »Eigenkörper« zu denken, der tatsächlich nur eine Gestalt der einsamen Seele wäre, die sich typischerweise durch eine ausgedehnte Gestalt erkennt. Im Gegenteil: Die unausgedehnte Seele ist der Ausdehnung ausgeliefert, die ihr nicht eigen ist, und es ist ihre Einheit mit diesem Nicht-Eigenen, die sie begreift, ohne sie zu begreifen, und die sie als unbegreifbar begreift.


Wenn ich mich abmühe oder schnaufe, wenn ich verdaue oder leide, falle oder springe, schlafe oder singe, erkenne ich mich selbst als nichts anderes als das, was sich abmüht oder singt, was Grimassen schneidet oder sich kratzt: als dies, und nicht diesen, oder jedenfalls nicht als ein von jeder anderen Sache distinktes ego. Dies also anstatt oder als dieser, oder dieser, der nichts als dies ist. 


So ist das, was erkennt, nicht etwas anderes als das, was erkannt wird, doch was dadurch erkannt wird, ist, dass dies gerade zwei distinkte Dinge in einer einzigen Indistinktion sind. Je wirksamer diese Identität, desto indistinkter ist sie, und desto weniger gibt es eigentlich zu erkennen. Desto weniger gibt es folglich auch eine Erkenntnis des »Eigenkörpers«, weil sich die Instanz der Eigentümerschaft auflöst. Ich kann diese Instanz – ein »Ich«, das fähig ist, »mein Körper« oder »ich bin mein Körper« zu sagen – nicht einführen, ohne den Körper auf Distanz zu halten, distinkt und unverbunden. Und ich schwäche auf diese Weise das evidente Wissen um die Einheit. 



* * *


Das bedeutet nicht, dass diese Evidenz ein unmittelbares Eintauchen in die vorausgesetzte innere Dichte der Einheit wäre, vorgestellt als eine Selbstgegenwart oder Präsenz bei sich, die sowohl dem Undurchdringbaren an sich, das die Materie bestimmt, gliche als auch dem absoluten Eindringen in sich und in alles, welches dem Geist zugehört. Denn die Einheit wäre dann nur die unwahrscheinliche Durchdringung des Undurchdringbaren, begriffen als ein Sein in sich. Aber was sie nicht ist und was sie tut, ist eben dieses Durchdringen des Undurchdringbaren. Die Evidenz ist hier die Durchdringung selbst dieser Durchdringung, aber genau deshalb ist sie nicht die Anschauung einer Präsenz in sich.


Was auch immer ihre Natur ist, eine substanzielle Präsenz kann nur die Negation der Präsenz als Selbst sein, sowohl der Präsenz in sich als auch bei sich selbst. Denn eine Präsenz ist nichts, wenn sie nicht in gewisser Weise ein Nach-vorn-Stellen – prae-sentia –, eine Exposition ist, und ein Selbst ist nichts, wenn es nicht in seinem Herzen (das Herz eines Selbst ist das Selbst) Abstand von und Rühren an sich, Schlagen von sich zu sich ist, wodurch das »Selbe« das »(sich) Selbst« auseinander setzt, das man gesetzt und vorausgesetzt geglaubt hätte. 


Daraus folgt, dass die Evidenz der Einheit, weit davon entfernt, eine Replik und eine Rivalin der Evidenz des Geistes und jener des Ausgedehnten zu sein, wie es gewisse Apologien des »Körpers« oder auch gewisse Annäherungen an das »Fleisch« zu verstehen geben, eine Evidenz von einer anderen Ordnung ist. Sie ist weder »evident« noch »klar und distinkt«, und sie kann sich nicht auf sich selbst beziehen wie die selbstbegründete Gewissheit einer inspectio mentis. Und tatsächlich ist sie nicht die Tatsache einer »Inspektion«, sondern einer »Ausübung« oder eines »Prüfens«.


Die ihr eigene Modalität ist durch ihren Inhalt bedingt. Dieser ist die substanzielle Einheit. Das bedeutet zunächst, dass dies keine dritte Substanz ist: Und in der Tat, wäre dies der Fall, so wäre es unmöglich, dass jene Substanz den geringsten Bezug zu den zwei anderen hätte, weil eine Substanz sich nur auf sich selbst bezieht. Nun ist die Einheit gerade die Beziehung der zwei Substanzen. 


Andererseits vereint die Einheit die beiden Substanzen nicht akzidenziell: Genaugenommen ist sie substanziell. Man könnte auch sagen, sie führt die Substanzialität eines Akzidens herbei. 


Die Einheit vereint Substanzen: Sie ist weder Substanz noch Akzidens, sie ist weder eine Sache noch eine Qualität oder Eigenschaft einer Sache (es sei denn gerade die Eigenschaft der Einheit als die von zwei Substanzen geteilte Eigenschaft). Sie geht aus einer anderen Ordnung hervor: nicht aus jener der res, sondern aus jener der Relation. Nun ist diese Relation eine ganz spezifische: Sie ist weder eine der Inklusion oder der Inhärenz, noch der Abhängigkeit oder der Kausalität, noch der Disjunktion oder der Exklusion, doch ist sie auch nicht auf Kontiguität oder Nähe zu reduzieren, denn diese sind keine Relationen mehr (allenfalls »Nachbarschafts«-Beziehungen). Sie ist gleichsam distinkt von all diesen Modi, die sie dennoch auch einschließt.


Sie bildet eine Zugehörigkeit jeder Substanz zur anderen, sodass es sich weder um eine Assumtion noch um eine Subsumtion der ­einen durch die andere handelt, sondern vielmehr um eine Empfänglichkeit der einen für die andere. Die Seele kann vom Körper berührt werden, und dieser von der Seele. Zwischen den beiden gibt es Berührung: Kontakt, der kommuniziert und dabei jede der beiden res intakt lässt. Die Berührung berührt bei Descartes immer das Undurchdringbare: Nun wird der »gewissermaßen mit dem Körper vermischte« Geist »von den Spuren, die in den Körper eingedrückt werden, berührt«. Dort, wo sie sich berühren, sind der Körper und der Geist füreinander undurchdringbar und genau dadurch vereint. Die Berührung stellt den Kontakt zwischen zwei Intakten her. 


Was die Berührung kommuniziert, ist nicht res (oder real), sondern von der Ordnung des Berührens, welches selbst reell ist, ohne real zu sein: ein Impuls oder ein Trieb, ein Druck, ein Eindruck oder ein Ausdruck, eine Erschütterung. Die Einheit vollzieht sich in der Ordnung der Bewegung: Sie ist das, worin oder als was eine Bewegung der Seele sich auf den Körper oder eine Bewegung des Körpers sich auf die Seele überträgt. 


Die Bewegungen der Seele sind von der Ordnung des Denkens, das heißt des Selbstbezugs: Ein ego bezieht sich hier auf sich, im Modus des Spürens oder des Begreifens, des Vorstellens oder des Wollens. In einem weiten Sinne, und um im Wortfeld des motum zu bleiben, kann man sagen, dass diese Bewegungen E-Motionen sind. Die E-Motion ist die Erschütterung eines ego, das sich von sich unter­scheidet oder affiziert. Gleichzeitig setzt jede E-Motion die egologische Selbstaffektion oder cogitatio voraus, die exakt die Co-Agitation des ego ist, welche sich in der Verdopplung, ja im e-motiven Gestotter »ego sum, ego existo« ankündigt. 


Die Bewegungen des Körpers sind von der Ordnung des lokalen Transports: Sie gehen von einem Ort an einen anderen. Die A­usdehnung ist in sich außerhalb ihrer: Abstand der Orte, partes e­xtra partes, Gestalten und Bewegungen (die Gestalten sind selbst der Effekt einer Bewegung, die sie vorzeichnet). Im weiten Sinne können wir sagen, dass die Bewegungen des Körpers Extensionen sind: das Ins-Außerhalb-Stellen der reinen Koinzidenz mit sich, die hier den Punkt definieren würde, beziehungsweise das Negativ der Ausdehnung. Die Extension ist die Negation dieser punktuellen N­egativität (allerdings negiert jene eine vorhergehende Bewegung, den Verlauf der zwei Geraden, die sich in dem Punkt schneiden).


* * *


Aus dem Vorhergehenden ergeben sich zwei Folgerungen:


Die Analyse der Einheit als Einheit der Bewegungen (antreibende oder mobilisierende Einheit) bestätigt die wechselseitige Unabhängigkeit der Substanzen. Jede cogitatio setzt sich cogito voraus, und jede extensio setzt sich extenditur voraus. Ich denke auf der einen Seite und es ist ausgedehnt auf der anderen, und ich denke immer irgendwie »ich«, wie auch die Ausdehnung selbst immer ausgedehnt ist. Jede Substanz ist für sich erste und letzte. 


Die Einheit ist also Einheit von Emotion und Extension, welche die beiden heterogenen Voraussetzungen sind. Sie ist die Berührung beider Mobilitäten, oder vielmehr ist sie die der Berührung eigene Mobilität oder Motilität: Kontakt zweier Intakter.


In einem Punkt (in der Zirbeldrüse, Sitz einer unaufhörlichen Betriebsamkeit) berühren sich die beiden Bewegungen in einer selben Bewegung. Das Unkörperliche ist hier körperlich und umgekehrt. Es handelt sich dabei nicht um eine Transsubstantiation, sondern um eine Kommunikation (allerdings könnte man sicherlich versuchen, die beiden zu identifizieren). Nun ist diese doppelte Bewegung nichts anderes als die Dualität, die in der Identität des selben »e« oder »ex« enthalten ist, welches das Präfix für die Emotion und für das Extendierte, das Ausgedehnte ist. Die Einheit ist die eine und doppelte Operation einer Ex-position, die als die selbe antreibende Eigenschaft beider Substanzen fungiert. Die Union, wenn man so will, ist eine Re-Union, die man als eine Ex-Union oder als eine in sich selbst exogene Union verstehen müsste … 


Wir nähern uns auf diese Weise weiter der Evidenz, die wir bezüglich der Einheit empfinden [é-prouvons]. Es geht dabei um eine Erkenntnis, die sich nicht von ihrem Objekt unterscheidet, und die sich genau deshalb überhaupt nicht unterscheidet, sondern sich nach dem Maße ihres Empfindens in-distinguiert. Sie ist simultan und indistinkt, emotiv und extensiv. Wenn ich mich also erkenne, bin ich bewegt von meiner Erkenntnis, insofern ich jene auf die Dinge ausdehne, über die sie verfügt, wie das Schlagen meines Herzens, das Bett eines Fingernagels oder auch die graue Färbung und die körnige Beschaffenheit der Fläche, auf der ich meine Hand ablege. Ich erkenne mich als Herzschlag, Fingernagel, Färbung und Oberfläche. Das heißt, ich erkenne all diese Ausdehnungen des ego, das sich hier rührt, und ich erkenne umgekehrt die Egoität dieser Ausdehnungen: Jene heißt Welt, im zeitgenössischen, wenn nicht im cartesischen Sinne des Wortes. Eine Welt ist eine Totalität von emotionierender Ausdehnung und von ausgedehnter Emotion: das heißt eine Expositions­totalität, die man auch »Sinn« nennen könnte, in dem Sinne, in dem der Sinn hier genau das Teilen des ex ist: Was in sich ist, verweist auf sich als auf das Außen des Sich – aber dieses Außen ist genau das Innen der Welt, das allein in dieser Exposition besteht, von der wir begreifen (ohne sie zu unterscheiden), dass sie die ununterschieden körperliche und unkörperliche Bewegung dessen ist, was sich in einem unauflöslichen doppelten Sinne ausdehnt: was sich unendlich verteilt in undurchdringbare partes extra partes, und was unendlich durchdringt und sich durchdringt als die Extra-Position selbst. Das extra der undurchdringbaren Teile verschmilzt hier mit dem existo: Ex-istieren, ex sein, das heißt gemäß der körperlichen Äußerlichkeit exponiert sein, das heißt auf der Welt sein, und es heißt sogar, noch radikaler, Welt sein.


Welt sein heißt nicht, sich selbst immanent sein: Es heißt im Gegenteil außer sich sein. Es heißt ein ausgedehnter Sinn sein: Man muss sagen, dass der Sinn der Welt mit der Ausdehnung der Welt verschmilzt, ohne eine andere Welt oder eine Hinterwelt aufzurufen, aber man muss genauso und unterschiedslos sagen, dass der Sinn der Welt außerhalb der Welt liegt. Diese indistinkte Identität, die auch jene der Evidenz ist, in welcher ihr Wissen sich exponiert und aufdrängt und sich in unklarem Erweis empfinden lässt, ist folglich die Identität von Außen und Innen.


Aber die Identität von Außen und Innen bewirkt nicht die Resorption einer Substanz in der anderen, sondern sie bewirkt vielmehr die Exposition der einen Substanz gegenüber der anderen als Exposition der Welt gegenüber sich selbst und somit als Notwendigkeit, den Sinn (oder die Wahrheit) als diese Exposition selbst zu verstehen – und außerdem insofern, als sie sich nicht einmal einfach »selbst« sagen kann. Denn sie ist in sich von sich selbst verschieden: Sie ist in ihrer Indistinktion von sich distinkt. 


Was man so oft als den cartesischen »Dualismus« bezeichnet, kann also ganz anders aufgefasst werden denn als ein ontologischer Schnitt zwischen Körper und Geist. Es handelt sich genauso und vielleicht viel eher um eine Ontologie des »Zwischen«, des Abstands oder der Ex-position, wodurch überhaupt nur etwas wie ein »Subjekt« sich ereignen kann. Ein Subjekt, das nunmehr zwei fundamentale Merkmale hätte: nicht Substanz zu sein, und den a­nderen Subjekten exponiert zu sein. Diese beiden Merkmale sind ihrerseits die innere Spaltung des ex-, das die Motrizität und Mobilität der Einheit ausmacht. Eine Welt der Subjekte kann nur eine Welt der inneren Expansion gemäß dieser doppelten Ex‑positionslinie sein, und folglich eine gemeinsame und insubstanzielle Welt, gemeinsam aufgrund ihrer Insubstanzialität – das heißt, gemeinsam aufgrund der ontologischen Unmöglichkeit einer gemeinsamen Substanz (die allen Subjekten zusammen nicht gemeinsamer ist als dem Subjekt und sich selbst). Diese Unmöglichkeit eröffnet allein die Möglichkeit, die Chance und das Risiko, auf der Welt zu sein. 


* * *


Wenn ich das Ausgedehnte betrachte – das geschmolzene, ausgebreitete Wachs ohne Eigenschaften –, und wenn die Ausdehnung sich auf meine Augen ausdehnt, dann berühren sich eine Emotion und eine Extension. Ohne diesen Kontakt würde meine inspectio mentis nichts sehen, und die Ausdehnung würde sich nicht auf meine mens ausdehnen. Der Geist bewegt sich dann, in seiner in­spectio selbst, bis in die Extension, und diese dehnt sich bis zum Geist aus, durch alle Kanäle und durch alle Fasern des Körpers, wo der Geist sich inspizierend exponiert.


Die Seele wird also berührt: Das heißt, dass sie zugleich bewegt wird und beeindruckt wird von diesen »eingedrückten Spuren« im Körper, das heißt von den ausgedehnten Spuren der Ausdehnung der Welt. Die Seele exponiert sich dabei in einer der Extension eigenen Modalität, sie vermählt sich mit der Schwingung des Körpers: Wenn ich laufe, ist das eine laufende Seele, wenn ich schlafe, eine schlafende Seele, wenn ich esse, eine essende Seele. Wenn eine Klinge oder ein Dorn meine Haut ritzt, wird meine Seele exakt von der Tiefe, der Kraft und der Form der Verletzung geritzt. Und wenn ich sterbe, wird die Seele zum Tod selbst. 


Anders ausgedrückt, empfindet die Seele den Körper nicht, nicht mehr als der Körper die Seele. Aber irgendeiner empfindet sich, und das »Eine« dieses Irgendeinen ist ganz einfach die indistinkte Motion dieses »Sich-Empfindens«. Es spürt sich, was nicht bedeutet, dass es sich als »Selbst« unterscheidet, oder wenigstens nicht wie eine Substanz – sondern dass es sich in-distinguiert, insofern es sich sich selbst ex-poniert. Indem es sich so empfindet, unterscheidet es sich als distinkt vom Distinkten im Allgemeinen, und folglich als in-distinkt. Aber diese In-distinktion ist keine schwache und verworrene Eigenschaft des Objekts: Sie ist die Kraft selbst und die Bewegung dessen, was man die Fälligkeit des Subjekts nennen könnte: wie es, indem es aus sich heraus fällt, kommt.


Psyché ist ausgedehnt, weiß nichts davon, schreibt Freud in einer posthum veröffentlichten Notiz. Obwohl sie ausgedehnt ist, weiß Psyché nicht, dass sie ausgedehnt ist. Das Ausgedehnte ist im A­llgemeinen nichts, was man wissen könnte: Es lässt sich bewegen, e-motionieren. Aber im Sich-Emotionieren oder Sich-Exponieren der Einheit, auf unentwirrbar eine und doppelte Weise, zwei in einem und eins in zweien, weiß sich das Nicht-Wissen um sich, welches das Selbst ausmacht, das den Sinn emotioniert und herausbewegt, und das Sinn macht – bis hin zum Sinn des Wissens selbst – : eine von der Seele über den ganzen Körper und bis ans Ende der Welt exponierte Emotion.


Der Körper ist die Ausdehnung der Seele bis an die äußersten Enden der Welt und bis an die Grenze des Selbst, eins mit dem anderen verflochten und indistinkt distinkt, Ausdehnung, zum Bersten gespannt.

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Jean-Luc Nancy

Jean-Luc Nancy

(1940–2021) gilt als einer der bedeutendsten Philosophen der Gegenwart. Er lehrte bis zu seiner Emeritierung Philosophie an der Université Marc Bloch in Straßburg und hatte Gastprofessuren in Berkeley, Irvine, San Diego und Berlin inne. Sein vielfältiges Werk umfasst Arbeiten zur Ontologie der Gemeinschaft, Studien zur Metamorphose des Sinns und zu den Künsten, Abhandlungen zur Bildtheorie, aber auch zu politischen und religiösen Aspekten im Kontext aktueller Entwicklungen.

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Jean-Luc Nancy: Ausdehnung der Seele

Jean-Luc Nancy

Ausdehnung der Seele
Texte zu Körper, Kunst und Tanz

Übersetzt von Miriam Fischer

Broschur, 112 Seiten

Der Band vereint verstreute Texte, in denen Jean-Luc Nancy sich mit dem Themenfeld von Körper und Leib beschäftigt. Mal fragmentarisch verdichtet, mal in genauen philosophischen Lektüren und Beobachtungen betrachtet er den Körper aus dem Blickwinkel der sexuellen Lust oder des Medizinischen, in seiner Grenzfunktion zwischen Innen und Außen, dann liest er René Descartes über das Verhältnis zwischen Körper, Geist und Seele oder stellt Überlegungen zur ästhetischen Lust »am Rande der Funktion ›Kunst‹« an. Immer wieder aber steht der Tanz im Zentrum, als Trennung und Loslösung, als Geburt des Körpers und des Sinns, als unablässige Entwicklung, »Körper, Markstrang, um eine Leere gekrümmt, Embryo, über nichts gebeugt, eingewickelt, sich entwickelnd«. Der tanzende Körper ist ein Körper, der sich von sich trennt, um zu sich zu finden, der seine Form verlässt, um eine neue einzugehen, der einen Ort aufgibt, um einen anderen einzunehmen.