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Robert Stockhammer: Globalisierung
Globalisierung
(S. 115 – 118)

Welche Globalisierung im Bologna-Prozess?

Robert Stockhammer

Globalisierung

PDF, 4 Seiten

»In der Studienordnung Bolognas steht der Begriff natio für ›Ausland‹ und ›Fremde‹ und dient somit als negative Bestimmung der so bezeichneten Personen.«1 Dies bezieht sich hier freilich nicht auf die Bologna-Erklärung (↑ Bologna-Prozess) aus dem Jahre 1999, sondern auf das 12. Jahrhundert, in dem die ersten Universitäten sich formierten. Genauere Daten für die »Entstehung« der modernen Universitäten – denen zufolge etwa diejenige von Bologna »die erste« gewesen und bereits 1088 gegründet worden sei – beruhen auf ziemlich arbiträren Entscheidungen. Der Name universitas, der als Bezeichnung der neuartigen Bildungsinstitutionen offenbar erst im frühen 13. Jahrhundert belegt ist, bedeutet ja schlicht eine Gesamtheit, ohne Aussagen über deren Organisationsgrad zu treffen. Ein entscheidender Schritt bei der Herausbildung dessen, was etwa Bernd Huber als »Volluniversität« propagiert,2 lag in der Gründung von »Artistenfakultäten«, von denen noch heute die As in den Abkürzungen vieler Studiengänge abgeleitet werden (Magister Artium, Bachelor of Arts, Master of Arts). Denn als Medizin, Theologie und Jurisprudenz die organisierte Gestalt von Fakultäten annahmen, wurden die artes liberales auf die Gestalt einer Fakultät unter anderen reduziert. Bald wirklich unter den anderen: Grammatica, Rhetorica und Dialectica wurden zur Vorschule degradiert, in die 14- bis 15-Jährige eintreten, um für sechs Jahre zu lernen; ihre Lehrer waren häufig graduate students der Theologie, die ihrerseits den MA schon abgeschlossen hatten, aber ausdrücklich daran gehindert wurden, ihren Studenten ihr neuerworbenes Fachwissen zu vermitteln.3

Immerhin scheint die »mobility«, zu deren »promotion« man 1999 nachdrücklich aufrufen musste,4 um 1300 selbstverständlich gewesen zu sein. So reiste etwa – nach einer leider nicht hieb- und stichfest beweisbaren Hypothese – der aus Florenz stammende Dante Alighieri nach Paris, um dort die Vorlesungen dänischer »Modisten« zu hören, also Vertreter der spekulativen Grammatik, die seinerzeit ungefähr so angesagt war wie 700 Jahre später die Dekonstruktion. Angesichts dieser Herkunft aus den verschiedensten Regionen wurden die Studierenden nicht nur in Fakultäten, sondern eben auch in nationes unterteilt – ein Wort, für dessen heutigen Sinn diese Verwendung wohlgemerkt ein wichtiges Stadium bildete: Um 1300 waren nur Studenten in Nationen organisiert. Mit der disjunktiven Zuordnung nahm man es freilich seinerzeit noch nicht so genau wie es heutzutage eine Organisation wie die UNO nehmen muss, die jederzeit die genaue Zahl von Nationen präzis ausweisen können muss (derzeit etwa 193, den Südsudan als jüngstes Mitglied miteingeschlossen). Denn da Gliederungseinheiten wie die luxemburgische Nation, der womöglich nur genau ein Student angehört hätte, unpraktisch gewesen wären, legte man in Bologna schon mal Dänen, Böhmen und Mähren in einer natio Germanica zusammen. »Noch deutlicher als in Bologna tritt die Willkürlichkeit der ›nationalen‹ Zuordnung an der Universität von Paris hervor, wo die Studentenschaft – zumindest die der Artistenfakultät – seit Mitte des 13. Jahrhunderts in vier nationes gegliedert war: die natio Gallicorum, die Studenten aus dem Gebiet der Ile de France umfaßte; die natio Normannorum, in der die Studenten aus der Normandie und angrenzender Gebiete zusammengefaßt waren; die natio Pictavorum, der die Scholaren aus dem südlichen Frankreich (Picardie) angehörten; schließlich die natio Anglicorum (auch Anglorum), zu der nicht nur Engländer und Schotten, sondern auch alle Deutschen und weiteren Nachbarn Frankreichs zählten.«5

Universitäten gehören also zweifellos zu denjenigen Institutionen, denen eine gewisse Erfahrung im pragmatischen Umgang mit Mobilität, auch über Landes- und Sprachgrenzen hinaus, zugetraut werden kann. Ob dies schon für ihre Expertise in Prozessen der Globalisierung spricht und welche Rolle dabei der »↑ Bologna-Prozess« spielt, hängt allerdings entscheidend davon ab, von welchem Begriff der Globalisierung man ausgeht. Zunächst ist dabei festzuhalten, dass sich das Verhältnis von Europa und dem Rest der Welt in jüngerer Zeit drastisch gewandelt hat: War die Universität trotz arabischer Vorbilder in dieser Form eine europäische Erfindung, so liegen heute acht der Universitäten, welche in dem mancherorts maßgeblichen »Shanghai-Ranking« (↑ Rankings) die top ten bilden, in den USA. (Die bestplazierte deutsche kommt hinter der 35. US-amerikanischen: die LMU München auf Platz 52).6 Diese Situation hinterlässt ihre deutlichen Spuren in der Wettbewerbs-Rhetorik der Bologna-Erklärung: »We must in particular look at the objective of increasing the international competitiveness of the European system of higher education.«7 Das europäische »Wir« dieses Satzes ist eben seinerseits kein globales, sondern eines, mit dem sich ein Kollektiv-Akteur im globalen Wettbewerb »gut aufstellt«. Damit ist die natio Europaeorum – wie sie wohl in Analogie zu den früheren nationes heißen müsste, wenngleich Google noch 0 hits für diese Verbindung ausweist – in sich genau nicht globalisiert. Die Einheit »ECTS-Punkte« (↑ Leistungspunkte/ECTS), die Währungseinheit auf dem Bildungsmarkt, legt es so wenig wie der EURO darauf an, sich demnächst in einer Weltwährung aufzuheben, sondern soll bestenfalls den Wechselkurs der credits im Verhältnis zum US-amerikanischen Markt stabilisieren.

Zu den clichés der Kritik an der »Bologna-Reform« gehört, dass sie die Mobilität von Studierenden, statt befördert, sogar behindert haben. Falls dies zutreffen sollte, so läge es nicht an der Erklärung von 1999 selbst, sondern daran, dass sie allzugut in den Trend zur Ökonomisierung (↑ Austauschbarkeit) und Beschleunigung von Bildung passte. Wer trotzdem noch bereit ist, während eines BA-Studiums ein Semester zu (wie man dazu heute sagt) »verlieren«, kann, wenn die Zuständigen an der Heimatuniversität einigermaßen mitdenken, sehr gut ein Auslandsjahr einlegen. Schwieriger allerdings kann es sein, einfach an eine andere Universität in nächster Nähe zu wechseln. Und dies ist in der Tat ein Effekt der Globalisierung, wenn man darunter (im Einklang mit vielen neueren Definitionen) versteht, dass Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen verschiedenen Lebensverhältnissen sich immer weniger proportional zur geographischen Entfernung verhalten: Man kommuniziert via neuerer Medien vertraut mit seinen Freunden in Japan, kennt aber seine Nachbarn nicht. Dementsprechend kann es beispielsweise vorkommen, dass die trinitarische Vorliebe der Münchner LMU, der zufolge grundsätzlich ↑ Module mit einer durch drei teilbaren Zahl von ECTS-Punkten zu »kreditieren« seien, von der Universität in Vilnius geteilt wird (dieses Beispiel ist erfunden) – wohingegen die 60 Kilometer entfernte Universität in Augsburg munter sämtliche Zahlen von eins bis acht erlaubt, gerade die drei aber eher scheut (dieses Beispiel ist nicht erfunden). Für einen Münchner Studenten, der sich sein transcript of records nicht versauen will, liegt Vilnius dann näher als Augsburg. Die Welt besteht eben nicht mehr aus konzentrischen Kreisen. Die Annahme, wonach die Ähnlichkeiten innerhalb Bayerns am größten, innerhalb Deutschlands immerhin auch noch verhältnismäßig groß seien, und es erst dann richtig anders wird, funktioniert nicht mehr: Das ist Globalisierung.


1 Herfried Münkler: »Sprache als konstitutives Element nationaler Identität im Europa des späten Mittelalters«, in: Dirk Naguschewski, Jürgen Trabant (Hgg.): Was heißt hier »fremd«? Studien zu Sprache und Fremdheit. Berlin 1997, S. 115–135, hier S. 117.

2 Vgl. http://www.oefg.at/text/veranstaltungen/universitaeten/Beitrag_Huber.pdf (aufgerufen: 15. 5. 2012).

3 Vgl. Olaf Pedersen: The First Universities. Studium generale and the Origins of University Education in Europe, Cambridge 1997, S. 171, 194 u. 272f.

4 Vgl. http://ec.europa.eu/education/policies/educ/bologna/bologna.pdf (aufgerufen: 15. 5. 2012).

5 Münkler, »Sprache als konstitutives Element nationaler Identität«, a.a.O., S. 117 (Dort befindet sich auch das vorausgegangene Beispiel aus Bologna).

6 Vgl. http://www.arwu.org/ (aufgerufen: 15. 5. 2012).

7 Vgl. http://ec.europa.eu/education/policies/educ/bologna/bologna.pdf (aufgerufen: 15. 5. 2012).

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Robert Stockhammer

lehrt Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er ist Sprecher des Graduiertenkollegs Globalisierung. Funktionen des Literarischen in Prozessen der Globalisierung. Nach der Promotion 1989 war er vor allem am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der FU Berlin, nach der Habilitation 1998 vor allem am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin tätig.

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»ECTS-Punkte«, »employability«, »Vorlesung« – diese und viele weitere Begriffe sind durch die Bologna-Reformen in Umlauf geraten oder neu bestimmt worden und haben dabei für Unruhe gesorgt. Die Universität ist dadurch nicht abgeschafft, aber dem Sprechen in ihr werden immer engere Grenzen gesetzt. Anfangs fremd und beunruhigend, fügen sich die Begrifflichkeiten inzwischen nicht nur in den alltäglichen Verwaltungsjargon, sondern auch in den universitären Diskurs überhaupt unproblematisch ein.

Das Bologna-Bestiarium versteht sich als ein sprechpolitischer Einschnitt, durch den diese Begriffe in die Krise gebracht und damit in ihrer Radikalität sichtbar gemacht werden sollen. In der Auseinandersetzung mit den scheinbar gezähmten Wortbestien setzen Student_innen, Dozent_innen, Professor_innen und Künstler_innen deren Wildheit wieder frei. Die Definitionsmacht wird an die Sprecher_innen in der Universität zurückgegeben und Wissenschaft als widerständig begriffen.

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