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Tilman Reitz: Intellektuelle
Intellektuelle
(S. 121 – 130)

Aussichten der Fehlinvestition

Tilman Reitz

Intellektuelle

PDF, 10 Seiten

Aussichten der Fehlinvestition
Akademische Intellektuelle nach Bologna

Wo man Intellektuelle sieht und wie man ihre Aussichten einschätzt, hängt stark von der Definition dieser Gruppe ab. Für die Universitäten bringt schon eine einzige, klassische Bestimmung ambivalente Ergebnisse: Es gibt einerseits keine akademischen Intellektuellen und kann andererseits sehr viele geben. Einerseits besteht wenig Grund, Lehren, Forschen oder Studieren in einem starken Sinn intellektuell zu nennen. Sicher wird dabei geistige Arbeit geleistet, manchmal wird Wissen hervorgebracht, oft werden sogar Welt, Dasein und Gesellschaft ausgelegt und beurteilt. Doch Intellektuelle kennzeichnet, seit ihr Begriff in der Dreyfus-Affäre geprägt wurde, dass sie professionelle ↑ Kompetenzen überschreiten und sich andernorts einmischen. Solange eine Professorin nur Platon oder Derrida erklärt, tut sie bloß ihre Arbeit, genauso wie auch eine Managerin, eine Pastorin oder ein Programmierer – alles ebenfalls Leute, die geistig tätig sind. Als Intellektuelle tritt sie erst in Erscheinung, wenn sie ihr Können und Ansehen einsetzt, um etwa gegen einen Krieg oder ein Gefangenenlager zu protestieren.

Nun ist diese Figur der »öffentlichen Intellektuellen« nicht die einzig mögliche und sinnvolle. Doch auch andere Bestimmungen setzen voraus, dass man über die geistige Tätigkeit, mit der man nur Geld verdient, seine Aufgaben erledigt oder sich ausbildet, markant hinausgeht. So nutzen beispielsweise »spezifische Intellektuelle«, wie sie Foucault schildert, ihre Expertise direkt zur Sabotage oder Umgestaltung ihrer Arbeitskontexte, vom Labor bis zur Psychiatrie; die »organischen Intellektuellen«, die Antonio Gramsci ins Spiel gebracht hat, wirken, ohne sich zwingend persönlich zu profilieren, im Kampf um politisch-kulturelle Klassenherrschaft; die heute prominenten »Medienintellektuellen« treten zumindest als Entertainer öffentlich in Erscheinung und werden von Fachkollegen skeptisch beäugt. Selbst die geläufige, aber soweit ich weiß noch auf keinen Begriff gebrachte Idee, dass Intellektuelle Menschen sind, die ihr kulturelles Wissen in eine experimentelle Haltung zum eigenen Leben umsetzen, impliziert eine Art Zweckentfremdung.

In meinem Beitrag will ich fragen, ob solche Überschreitungen in den Hochschulen nach Bologna befördert oder zurückgedrängt werden. Dabei stelle ich zunächst kurz fest und dar, dass das Bologna-Programm anti-intellektuell ausgerichtet ist (1), überlege dann, inwiefern seine geschichtlichen Vorläufermodelle dies motiviert haben und Alternativen bieten (2), um schließlich die Chancen akademischer Intellektualität heute zu umreißen (3).

1. Ausbildung zum Nichtintellektuellen

In Selbstbeschreibungen der Hochschule kommen Intellektuelle nicht vor (↑ Bologna-Glossar). Das ist, wenn man die einleitende Bestimmung teilt, auch sinnvoll – wie und weshalb sollte die Institution auf die Überschreitung ihrer eigenen Grenzen hinwirken? Man kann aber Phasen, in denen das Hochschulsystem (neu) gestaltet wird, darauf hin betrachten, ob intellektuelle Tätigkeiten implizit eingeräumt oder explizit ausgeschlossen werden. Als Kriterium bietet sich erstens an, inwiefern Politik an den Hochschulen selbst als möglich und sinnvoll gilt, sowie zweitens, wie eng akademisches Forschen, Lehren und Lernen auf bestimmte Zwecke ausgerichtet sind. Hört man von »Bildung als Bürgerrecht« (Dahrendorf), oder vom Studium als Aufschubs- und Bedenkzeit für die Jugend (Humboldt) (↑ Lebensführung, studentische), kann man eine akademische Kultur vermuten, in der öffentliche Intellektuelle und ein intellektueller Lebensstil gute Chancen haben. Der ↑ Bologna-Prozess richtet sich gegen beides. Geistige Tätigkeit wird hier betont als Berufstätigkeit oder Ausbildung begriffen, höchstens räumt man den künftig Forschenden etwas Entfaltungsraum ein, alles andere wird als Störfaktor ausgeschlossen oder zurückgedrängt.

Ein solches Bild lässt sich bereits den programmatischen Erklärungen zum Bologna-Prozess entnehmen. Ich zitiere der Deutlichkeit halber aus einer neueren Publikation des CHE und des BMBF, die bereits Bolognakritik aufnimmt, aber die (in diesem Fall leicht ironisierten) Ziele des Prozesses bekräftigt: »Hintergrund war die Idee, Europa im Eiltempo als gemeinsamen Wirtschafts- und Kulturraum zu profilieren. Ein wesentliches Desiderat war […] ein höherer Output an hochqualifizierten Arbeitskräften. […] In Folge dessen sollte nun verstärkt die ›↑ Employability‹ (Beschäftigungsfähigkeit) der Studierenden gefördert werden. Was in den ohnehin anwendungsorientierten Fachhochschulen bereits zum Selbstverständnis und damit zum Alltagsgeschäft gehörte, stieß im universitären Milieu auf erhebliche Kritik, die bis heute anhält.«1 In der Tat stellt diese Kritik die Berufs- und Marktorientierung der neuen Studiengänge fast stärker heraus, als das die Bologna-Papiere selbst tun. Formeln wie »McKinsey-Stalinismus« (Ulrich Beck) waren keine Ausnahme.

Die offiziellen Verlautbarungen lassen den mutmaßlichen Gesamtzweck dagegen oft in der Auflistung von Kernmaßnahmen und Teilzielen untergehen: gestufte und vergleichbare Studiengänge, Kreditpunktesystem (↑ Leistungspunkte/ECTS, ↑ Qualitätssicherung); verkürzte Studienzeit, europäische Mobilität (↑ Globalisierung), Einmündung in den ↑ Arbeitsmarkt. Doch auch wenn man dieses Bündel betrachtet, fällt ins Auge, dass überall Lücken geschlossen und Dysfunktionalitäten vermieden werden sollen. Das Studium soll keine Zeitverschwendung sein oder beinhalten, es soll eine klare und eindeutige Struktur haben, weniger von den (Forschungs-)Interessen der Lehrenden als vom Bedarf der Studierenden geprägt sein; auch Auslandsaufenthalte sollen ohne Reibungsverluste vonstatten gehen, und der ↑ Arbeitsmarkt soll eben möglichst bruchlos erreicht werden. Es fällt schwer, diese Ziele insgesamt abzulehnen, ohne eine Art Wissenschaftsromantik dagegen zu setzen. Man kann aber auch ohne starkes Urteil feststellen, dass bei ihrer vollen Realisierung intellektuelles Leben an den Hochschulen unmöglich würde.

2. Bildung zur Führungskraft

Es gibt sicher Gründe, akademische Intellektualität skeptisch zu sehen. Verdeutlichen lassen sie sich, wenn man fragt, wer im Zweifelsfall die Intellektuellen an den Hochschulen wären. Ich glaube wie bereits angedeutet, dass man hier offen antworten kann: Studierende oder Lehrende. Beide Gruppen wurden in der Prä-Bologna-Hochschule immer wieder als stark intellektualitätsgefährdet gesehen, und beiden wurden im Zweifelsfall elitäres Gehabe (↑ Elite) oder Anmaßung vorgeworfen.

Die Studierenden hat so – bereits vor 1968 – Pierre Bourdieu geschildert. Eine These seiner mit Jean-Claude Passeron erstellten Studie zu Klassenreproduktion an Hochschulen lautet, dass sich die Studierenden nicht durch eine gemeinsame soziale Lage oder Lebensweise als Gruppe erweisen, sondern durch ein illusorisches Selbstverhältnis. Jenseits des Studiums »bestätigt sich der Student als Mensch mit freiem kulturellem Willen, wenn er in Filmklubs geht, Plattenspieler und Platten kauft, sein Zimmer mit Kunstdrucken ausstattet und die literarische oder die Avantgarde des Films entdeckt«, sich in »politischen und kulturellen Diskussionen« erprobt.2 Eigentlich werde so Zugehörigkeit zur »intellektuellen Klasse« angestrebt.3 Doch da »der Aufstieg in die Intelligenzija […] nur für eine beschränkte Zahl von Studenten eine realistische Zukunftsaussicht sein kann«,4 vermuten Passeron und Bourdieu weitere latente Funktionen des Abweichungsspiels, von der institutionellen Grenzerhaltung der Hochschule bis zur kulturell verkleideten Umsetzung sozialer Vorteile. Nur sowieso schon Privilegierte neigen zum »Spiel, die Erwartungen zu enttäuschen, jener privilegierten Art der Ausübung intellektueller Freiheit«.5

Bourdieu und Passeron vervollständigen ihre Entlarvung, indem sie die Abhängigkeit des Studenten vom Professor als Meister-Intellektuellen schildern, dem nächstliegenden der »Vorbilder, die er als zukünftiger Intellektueller nur in der Welt der Intellektuellen finden kann«.6 Was Professoren selbst als Intellektuelle kennzeichnet, erfährt man nicht. Man kann zunächst an die Neigung denken, sich in der Lehre mit mehr oder weniger Esprit über alles Mögliche zu äußern, sei es Kunst, Sexualität oder Politik. Das mag früher für beide Seiten attraktiv (↑ Love) gewesen sein und ist es, hört man, manchmal noch heute. Doch Professoren können auch substanziellere Qualitäten entfalten. Zur geistigen Autorität werden sie entweder durch eine Art Avantgardefunktion in ihrem Feld, durch neuartige, sonst nicht vertretene Einsichten – oder durch politische, kulturelle, biografische Eigenheiten, die sie von bloßen Hochschulfunktionären abheben. Zwei deutsche Beispiele zeigen, dass sich beides nicht decken muss: Wäre Heidegger nur als öffentlicher NS-Intellektueller bekannt gewesen und nicht auch als eigenwilliger Denker, hätte er nach dem Krieg weniger Anziehung entfaltet; Adorno dagegen hat weniger durch seine philosophischen Avantgardegesten als durch die oppositionelle Haltung seiner Schriften und Auftritte gewirkt. Vereinfachend könnte man Über-Professoren (Typ Heidegger) und Anti-Professoren (Typ Adorno) unterscheiden; nur letztere sind im engeren Sinn Intellektuelle. Sie sind denn auch als Intellektuelle angeklagt worden: Für Helmuth Schelsky, der Humboldts Ideal akademischer »Einsamkeit und Freiheit« bejaht hat, drohten nach 1968 die Akademiker faktisch zur herrschenden Klasse zu werden – und diese »Priesterherrschaft der Intellektuellen« hat er vehement abgelehnt.7

Bourdieu wie Schelsky könnten heute zufrieden sein; der Bologna-Prozess verringert klar die Gefahren, die sie beschreiben. Die in ihm betriebene Aufwertung und Standardisierung der Lehre – ganz zu schweigen vom Drittmittelkampf in der »Forschung« – würde auch Über-Professoren das Leben schwer machen, lässt ihnen aber – zumal an drittmittelstarken neuen Elitestandorten – einige Möglichkeiten. Die potenziellen Anti-Professoren verlieren dagegen die unbeaufsichtigten Freiräume, in denen sie fachfernes Engagement ausbilden könnten. Entsprechendes gilt für die Studierenden, die beiden früher vielleicht nachgeeifert haben. Der implizite Konsens, dass sie sich eine Weile intellektuell ausleben dürfen, wird mit Bologna explizit aufgekündigt.

Ich will gleich näher fragen, ob das akademische Leben nach Bologna diesem Bild entspricht, und dabei auch auf die wachsende Gruppe der nichtprofessoralen Lehrenden eingehen. Zuvor will ich ein erweitertes Zwischenergebnis festhalten: Die Praxis akademischer Intellektueller hat einen spürbaren, wenn auch noch nicht geklärten Klassenindex – sie könnte aber gerade deshalb (etwa wenn neue Gruppen an die Hochschulen kommen) echte Veränderungen auf den Weg bringen (etwa die mit Bourdieu und Passeron nicht erklärbare Studentenrevolte).

Um das genauer zu fassen, hilft ein Blick auf das Bild akademischer Freiheit, das man immer noch gerne Humboldt entnimmt. Bei ihm ging die Auffassung, dass die Universität Forschung und Lehre verbinden, Freiheit zum Denken gewährleisten und die Persönlichkeit bilden soll, eng mit der Frage einher, wie man Personal für die »höheren Staatsbedienungen« rekrutiert, zu denen »nur Geist und Bildung den Weg bahnen können«.8 Der zweite, weniger bekannte Gesichtspunkt schließt ein, dass das frei gebildete Individuum keineswegs beliebig orientiert sein darf; Humboldt konzipiert vielmehr eine ziemlich genaue Gesinnungsprüfung für angehende Staatsdiener.9 So wird deutlicher, welche Grenzen akademische Intellektualität überschreiten kann: Die Zöglinge sollen Führungs- und Orientierungswissen erwerben, also fähig werden, über andere zu entscheiden, während zugleich (in der auch von Bourdieu beschriebenen Selbstergänzung der Staatsklassen) ihre ideologische Zuverlässigkeit sichergestellt wird. Spätestens die Kämpfe der 1960er und 1970er Jahre haben jedoch gezeigt, dass die Massenhochschule weniger eingehegt funktioniert. Seit dieser Zeit ist allgemein sichtbar umstritten, wie der erweiterte Führungsnachwuchs ideologisch sozialisiert wird beziehungsweise was aus seiner intellektuellen Selbsterprobung entsteht. Bologna kann als ein später Versuch begriffen werden, diese Unsicherheit zu reduzieren.

Die fraglichen Kämpfe berühren allerdings, wie etwa Michael Hartmann gezeigt hat, kaum den Sachverhalt, dass gerade die akademischen Einrichtungen mit den größten Freiräumen bzw. Anteilen von Führungs- und Orientierungswissen verlässlich zur Reproduktion einer nicht nur staatlichen Oberschicht dienen, ob sie nun Stanford oder École normale supérieure, bald vielleicht auch Heidelberg oder München heißen. Wo immer man geübt hat, Meinungen zum großen Ganzen von funktional nötigen Handlungsweisen zu unterscheiden, kann auch die kritisch angereicherte Bildung (↑ Bildung, kritische) die Wenigen auszeichnen, die den Rest der Bevölkerung – wirtschaftlich, juridisch, administrativ, kulturell – zu leiten beanspruchen und sich dafür mit Privilegien entschädigen. Ein Problem akademischer Beinahe-Intellektueller ist, dass sie nicht ernsthaft von solchen Privilegien abgeschnitten sein mögen.

3. Was macht Führungswissen dort, wo es nicht gebraucht wird?

Der interessanteste intellektuelle Aspekt der erneuerten Hochschule könnten daher die Reaktionen der Nicht-Privilegierten sein: der Studierenden, denen auch ein verregeltes Studium keine geklärten Beschäftigungsaussichten verschafft, der Lehrenden, die für mehr Arbeit weniger Geld erhalten und frühere Sicherheiten verlieren (↑ Lehrauftrag). Beide Gruppen sind mit und nach Bologna gewachsen.

Im ersten Fall gab es Vorläuferentwicklungen, die sich in den letzten Jahren zugespitzt haben. Die Absolventen der traditionell verschulten südeuropäischen Hochschulsysteme – Italien, Spanien, Griechenland … – münden zunehmend in Akademiker-Arbeitslosigkeit ein. Diese Aussicht ist, wie das Gegenbeispiel der deutschen Bologna-Absolventen nahe legt, nicht zentral durch Studienstrukturen bedingt. Sie zeigt aber Grenzen jeder Hochschulreform: Wenn die Nachfrage nach hoch qualifizierten Arbeitskräften ausbleibt oder unvorhergesehene Gruppen verlangt, kann das Studium noch so verlässlich in sechs oder acht Semestern absolviert worden sein – man steht damit trotzdem auf der Straße. Hinzu kommt, dass sich viele Fachkulturen höchstens fassadenmäßig auf einen außerhalb des Wissenschafts- und Bildungssystems berufsbefähigenden Abschluss ausrichten lassen. Die wachsenden Kohorten, die an die Hochschule gehen, wissen also in bestenfalls stagnierendem Maß, wozu sie das tun.

Auf der anderen Seite stehen einige Privilegienverluste der Professoren – und die unklaren Aussichten des möglichen wissenschaftlichen Nachwuchses, dem von Doktorandenschulen über Projektstellen bis zur Juniorprofessur vielfältige befristete Möglichkeiten offen stehen. Auch diese Stellen tragen dazu bei, die gewachsenen Lehr- und Prüfungslasten zu bewältigen, erlauben jedoch mit Befristungsrahmen zu planen. Angesichts schwankender Jahrgangsgrößen werden Lehrende allgemein zunehmend befristet beschäftigt, ohne dass sie so eine andere Perspektive bekämen als den Kampf um die weiterhin knappen Professuren. Die erfolgreiche Verfassungsklage gegen faktisch gesenkte Professorengehälter befestigt diese Knappheit. Für den 25–50jährigen Nachwuchs, dessen Arbeit mehr denn je benötigt wird, ist die unsichere Perspektive also bereits ins System eingebaut. Die Lage war hier schon schlimmer – noch die letzte Reformwelle vor Bologna wurde einer verlorenen Generation Habilitierter vor die Nase gesetzt –, doch begründete Zufriedenheit wird sich in diesem Sektor nicht einstellen.

Die Hochschule bleibt also auf absehbare Zeit ein Bereich, in dem einiges an Hoffnung verschlissen, Unsicherheit und Enttäuschung produziert wird. Sie ist vielleicht – aber das kann ich hier nur andeuten – gar nicht anders denkbar, wenn ausgerechnet öffentlich finanzierte Bildung eine Produktionsweise antreiben soll, in der Gewinne privat akkumuliert werden. Die einzige systeminterne Alternative sind Studiengebühren und Privathochschulen. In diesem Problemfeld kann Bologna sicher nicht erreichen, dass einfach die enttäuschbaren Ansprüche wegfallen. Dazu sind unter anderem die Traditionen und Routinen akademischer Freiheit zu hartnäckig: Der Zeitaufwand der Studierenden lässt sich nicht per Dekret erhöhen, sondern bleibt gegenüber der Prä-Bologna-Zeit etwa gleich;10 die neu geschaffenen Kurzstudiengänge werden reihenweise wieder verlängert oder durch Weiterstudieren nach dem Bachelor sabotiert;11 die Aufwertung der Lehre wird durch das Spielfeld der Drittmittelprojekte kompensiert; der wissenschaftliche Nachwuchs durchläuft statt einer Assistentenstelle mehrere Projektstellen. Der hartnäckigste Unterschied zum status quo ante ist also bisher die größere Zahl der schlecht und recht Beteiligten – und die Frage ist, wie sie ihre Situation bewältigen. Die möglichen Antworten führen zurück auf mein Thema: Denkbar sind Anpassung, Interessenpolitik und Intellektualisierung.

Dass Studierende den neuen Regeln folgen, einfach weil es sich um starke Regeln handelt, Wissenschaftler die Wettbewerbe um Ausstattung und Reputation so ernst nehmen, dass ihnen die Zeit zum Forschen oder für sonstiges Engagement ausgeht, ist sogar in großem Maßstab beobachtbar. Es würde sich lohnen, die pathologische Seite dieser Verhaltensweise zu untersuchen; Robert Merton (1938) hat eine bloß noch formale, von Zwecken entkoppelte Regelbefolgung als Fall sozialer Anomie dargestellt.12 Besonders spannend wäre die Analyse für diejenigen, die den Bologna-Prozess kritisiert, aber in allen Feinheiten umgesetzt haben.

Mich interessieren hier stärker die beiden möglichen dissidenten Antworten. Zum einen können sich Menschen, die eine unvorteilhafte Lage teilen, solidarisieren und für Abhilfe einsetzen – Studierende können gegen Studiengebühren oder schlechte Lebensbedingungen auf die Straße gehen, das Forschungs- und Lehrpersonal könnte faire Arbeitsverhältnisse diesseits der Professur verlangen oder geschlossen den Pseudowettbewerb ablehnen. Auch hier handelt es sich nicht nur um Denkmöglichkeiten. Die Studentenproteste in europäischen Städten haben in letzter Zeit zugenommen, in Deutschland sogar erfolgreich Studiengebühren verhindert; in Israel und besonders Chile haben größere Bewegungen die Regierung in die Enge getrieben. Auffällig protestabstinent sind dagegen die Lehrenden und Forschenden. Hier scheinen die Trennungen zwischen Erfolgreichen, Aspiranten und Abgehängten, mehr und weniger Privilegierten, Staatsbeamten und prekär Beschäftigten weiter so stark zu sein, dass nur wortstarke Einzelbeschwerden (massiv gegen Bologna) oder eben gerichtliche Klagen (für das eigene Gehalt) möglich sind. Vielleicht wird es erst dann eine Interessenvertretung der Hochschulbeschäftigten geben, wenn sie konsequent als akademisches Proletariat behandelt werden – in den USA und in England haben sie immerhin schon Gewerkschaften.

In solchen Kontext können unzufriedene Wissensarbeiter ihre organischen Intellektuellen hervorbringen; ein bekannteres Beispiel ist etwa Camila Vallejo in Chile; selbst die passiv-bolognakritischen deutschen Hochschullehrer hatten mit Jürgen Kaube, Wolfgang Kemp oder Richard Münch Wortführer. Die Spielräume für spezifische, ihr Arbeitsfeld umgestaltende Intellektuelle sind nach Bologna dagegen beachtlich gering; alle Experimente mit Studium, Lehre und Forschung scheinen zwischen aufgerüsteter Bürokratie und neuer Marktlogik gefangen. Akademiker, die mehr wollen, können sich aber weiter als öffentliche Intellektuelle Angelegenheiten zuwenden, die nicht in ihrem Stundenplan oder ihrer Stellenbeschreibung stehen – Demokratie im globalen Zeitalter, geistiges Eigentum und abhängige Arbeit in der Wissensgesellschaft, die Zerstörung und Vernutzung knapper Ressourcen, der technisch, ästhetisch und biopolitisch verfügbar gemachte Körper. Selbst wenn auch die Spielräume dafür im professoralen Bereich sinken sollten, hindert das niemanden anderen an Initiativen. Tatsächlich hat der akademische Betrieb offene Ränder, an denen die genannten Debatten geführt werden. Man kann hier sogar den Mechanismus erkennen, den ich oben abstrakt und historisch umrissen habe: Was als Führungswissen und orientierende Ideologie in Frage käme, wird von so vielen Kräften beansprucht und ist auf so viele nicht ganz befugte Akteure verteilt, dass es nur noch im Modus der Umstrittenheit aktualisiert und gelehrt werden kann. Möglich wäre also Massenintellektualität an der Massenhochschule.

Mindestens drei Erwägungen lassen dennoch zögern, eine neue Hochzeit der akademischen Intellektuellen auszurufen. Eher oberflächlich irritiert, dass nicht mehr große Einzelpersonen die Hauptrolle spielen müssen. Vielleicht sind sie sogar überhaupt nicht mehr in der Lage, intellektuell tätig zu bleiben. Sie müssen, sobald ihr Talent entdeckt wurde, zu viele Vorträge halten, Podien besetzen, Beiträge schreiben und Vernetzungen organisieren, um noch weiter gewagte Gedanken zu entwickeln. Gerade am politischen Rand des akademischen Betriebs ist ein eigenes Starsystem entstanden, das spürbar an die diskutierte Substanz geht. Doch gegen all dies könnte helfen, dass inzwischen sehr viele Menschen die nötige Schulung haben – es ginge wie gesagt um Massenintellektualität. Schwieriger ist zweitens, dass die allermeisten, die hierzu neigen, nur ein wenig politisiert oder experimentierfreudig sind. Kleine Dosen Foucault, Butler und selbst wieder Marx, Kapitalismus-, Wachstums-, Ethnozentrismus- und Heteronormativitätskritik sind problemlos mit Karrieren und Anträgen vereinbar und lassen sich ihnen in Problemfällen gut unterordnen. In bestimmten Schulen ist eine maßvoll-kritische Haltung sogar erfolgsnotwendig. Doch wo diese oder jene Mäßigung vorherrscht, führt der Weg zurück zu Humboldts vertrauenswürdigen Nachwuchsbeamten, nicht in das neue Land geistigen Abweichungshandelns. Dass beim akademischen Nachwuchs und den Studierenden tatsächlich nur wenig riskante Abweichung sichtbar ist, lässt sich schließlich – drittens – auch auf ein Klima allgemeiner Überforderung zurückführen. Der Bologna-Prozess hat an den Hochschulen die Zwangslage reproduziert, die politisch vor wie nach der Finanzkrise die Fantasie lähmt: Man braucht alle Kräfte, um individuell und kollektiv (als Organisation, Nation oder Wirtschaftsraum, als Institut, Fachbereich, Universität, Region, Forschungs- und Bildungsstandort) den erreichten Status zu sichern; ergänzend kann man guten Willen bekunden (für Umweltschutz, gegen Intoleranz); darüber hinausgehende Streitigkeiten sind nicht durchzuhalten. Erst in solchen Konflikten hat aber die Entschiedenheit, Beweglichkeit oder Unverschämtheit Sinn, die intellektuelle Praxis auszeichnet.

Das entscheidende Problem könnte sein, dass die fraglichen Konflikte auch in den größeren politischen Horizonten, auf die sich Intellektuelle ausrichten, nicht mehr ohne Weiteres erkennbar sind. Alle klassischen Fälle arbeiten entweder mit betonter Parteinahme – oft weiter links und rechts als erlaubt – oder unterlaufen bisher gefestigte Frontlinien. Wenn dagegen heute Hochschullehrer über den Tellerrand ihrer Disziplin blicken, um besorgt zu sehen, dass der Klimawandel bedrohlich ist, dass wir die Finanzmärkte nicht unter Kontrolle haben oder dass viele Menschen überfordert sind, fällt es schwer, ihre Rolle zu verstehen. Einerseits erschließt sich nicht, weshalb es akademisch artikulierte Vertreter von Positionen braucht, die sowieso bekannt und üblich sind; an die Stelle der Intervention tritt eine Art Redundanz. Andererseits könnten an dieser Stelle aber auch nur unsere gewohnten Begriffe für intellektuelle Praxis versagen. Ich habe versucht, diese Begriffe hin auf akademische Massenintellektualität zu öffnen – die Aussichten akademischer Mainstream-Intellektualität wären gesondert zu klären.

1 Sigrun Nickel: »Zwischen Kritik und Empirie – Wie wirksam ist der Bologna-Prozess?«, in: dies. (Hg.), Der Bologna-Prozess aus Sicht der Hochschulforschung. Analysen und Impulse für die Praxis, Gütersloh 2011, S. 8-17, hier S. 9. (Gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung.)

2 Pierre Bourdieu, Jean-Claude Passeron: Die Erben. Studenten, Bildung und Kultur (1964), Konstanz 2007, S. 58.

3 Ebd.

4 Ebd., S. 62.

5 Ebd., S. 64.

6 Ebd.

7 Vgl. Helmuth Schelsky: Einsamkeit und Freiheit. Zur sozialen Idee der deutschen Universität, Münster 1960, und ders.: Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen, Opladen 1975.

8 Wilhelm von Humboldt: Gesammelte Schriften, Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften (Hg.), Bd. 10, Berlin 1903, S. 92.

9 Vgl. ebd., S. 87f.

10 Vgl. Sabine Metzger, Rolf Schulmeister: »Die tatsächliche Workload im Bachelorstudium. Eine empirische Untersuchung durch Zeitbudget-Analysen«, in: S. Nickel (Hg.): Der Bologna-Prozess aus Sicht der Hochschulforschung, a.a.O., S. 68–78.

11 Vgl. Martin Winter: »Die Revolution blieb aus: Überblick über empirische Befunde zur Bologna-Reform in Deutschland«, in: S. Nickel (Hg.): Der Bologna-Prozess aus Sicht der Hochschulforschung, a.a.O., S. 20–35.

12 Robert K. Merton: »Social Structure and Anomie«, in: American Sociological Review, 3. Jg., 1938, S. 672–682.

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Tilman Reitz

ist Juniorprofessor für Wissenssoziologie am Forschungszentrum Laboratorium Aufklärung der Universität Jena. Sein Forschungsinteresse
gilt neben der Soziologie der Geisteswissenschaften der politischen Philosophie und der Ideologiekritik.

Unbedingte Universitäten (Hg.): Bologna-Bestiarium

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Bologna-Bestiarium

Broschur, 344 Seiten

PDF, 344 Seiten

»ECTS-Punkte«, »employability«, »Vorlesung« – diese und viele weitere Begriffe sind durch die Bologna-Reformen in Umlauf geraten oder neu bestimmt worden und haben dabei für Unruhe gesorgt. Die Universität ist dadurch nicht abgeschafft, aber dem Sprechen in ihr werden immer engere Grenzen gesetzt. Anfangs fremd und beunruhigend, fügen sich die Begrifflichkeiten inzwischen nicht nur in den alltäglichen Verwaltungsjargon, sondern auch in den universitären Diskurs überhaupt unproblematisch ein.

Das Bologna-Bestiarium versteht sich als ein sprechpolitischer Einschnitt, durch den diese Begriffe in die Krise gebracht und damit in ihrer Radikalität sichtbar gemacht werden sollen. In der Auseinandersetzung mit den scheinbar gezähmten Wortbestien setzen Student_innen, Dozent_innen, Professor_innen und Künstler_innen deren Wildheit wieder frei. Die Definitionsmacht wird an die Sprecher_innen in der Universität zurückgegeben und Wissenschaft als widerständig begriffen.

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